Gender-Trouble in Der gute Mensch von Sezuan.

Bosheit ist bloß eine Art Ungeschicklichkeit. Wenn jemand ein Lied singt oder eine Maschine baut oder Reis pflanzt, das ist eigentlich Freundlichkeit.

– Shen Te

Stell Dir vor, es gäbe eine Welt ohne entfremdete Arbeit. Eine Welt voller Freundlichkeit im obigen Sinne. Womöglich wäre es eine Welt, in der auch Shin Te nicht nur gut, sondern auch ehrlich bleiben könnte. Eine Welt, in der es Shui Tanicht bräuchte. Doch die Welt, wenigstens die, in der Bertolt Brechts Der gute Mensch von Sezuan spielt, ist eben nicht gut. Sie ist nicht voller Freundlichkeit, aber sie ist voller entfremdeter Arbeit. – So sie denn wenigstens noch Arbeit hat.

Was sie aber sicher ist: voller Mühsal. In der als fiktiv attributierten Provinz Sezuan ist der einzige gute Mensch der, der sich selbst zur Ware macht. Hier wird nicht nur die Arbeitkraft verkauft, hier geht der ganze Mensch als Verdinglichter über die Theke: Potenzierte Entfremdung. Und, kaum auch nur ansatzweise im Glück, treten die übrigen Armen mit ihren Ansprüchen, ihren Zumuten auf.

Der Rettung kleiner Nachen

Wird sofort in die Tiefe gezogen:

Zu viele Versinkende

Greifen gierig nach ihm.

– Shen Te

Warum Bertolt Brechts Der gute Mensch von Sezuan immer noch eine Lektüre wert ist

Auf die Frage, warum Der gute Mensch von Sezuan immer noch eine Lektüre wert ist, gibt es mindestens zwei Antworten. Die erste, kürzere könnte sich mit einem Hinweis auf den Verfasser begnügen: Ein Stück von Bertolt Brecht. Und dann auch noch eines aus der Exilphase, in der die Signature-Stücke entstanden sind: Mutter Courage und ihre KinderDas Leben des GalileiHerr Puntila und sein Knecht Matti

Es mag Geschmackssache sein, aber für mich ist der Exil-Brecht irgendwie der reifste Brecht. Es gibt immer noch diese verrückten Sätze, die schon in Trommeln in der Nacht fallen („Ich bin ein Schwein und das Schwein geht heim“, „Ellbogen muss man haben, genagelte Stiefel muss man haben“). Doch gleichzeitig sind die Charaktere so sicher gezeichnet, klar konturiert, schlechtgut und gutschlecht: menschlicher als alles, was in Schiller, Kleist und sogar Grabbe aufgetreten ist.

– Das war die kurze Antwort. Die gar nicht so schrecklich kurz war. Die längere Antwort hingegen lautet wie folgt.

Der schlechte Mann von SezuanDie gute Frau von Sezuan

Das Brecht nicht unbedingt ein feministischer Autor war, ist mittlerweile gut bekannt. Shen Te im Besonderen ist auch alles andere eher als ein emanzipatorischer Leuchtturm. Wie Anne Hermann gezeigt hat, bedient die ehemalige Prostituierte und baldige Mutter in dieser Ausdehnung so ziemlich genau das Repertoire, das Frauen im klassischen Patriarchat zur Verfügung stand: Hure und Mutter. Und doch lohnt sich ein Blick auf den bezeichnenden Umstand, dass Shen Te während der Handlung des Stückes weder das eine noch das andere jemalss ist. Insofern unterläuft sie den binären Code zunächst einmal.

Ein frei flottierendes generisches Maskulinum?

Doch auch das vermag den desaströsen Eindruck, den das Ganze macht, nicht zu lindern. Diskussionen über das sprachliche Mitmeinen, Exkludieren etc. haben, egal auf welcher Seite man steht, sensibel gemacht. Niemand kann mehr leugnen, nicht übers generische Maskulinum zu stolpern. Vor diesem Hintergrund liest sich folgende Passage irgendwie schräg, in der die Götter Wang darüber aufklären, dass in Shen Te ein guter Mensch gefunden wurde.

Doch, du hast jemand gefunden. Als du weg warst, kam erEr nahm uns auf für die Nacht, er behütete unseren Schlaf, und er leuchtete uns mit einer Lampe am Morgen, als wir ihn verließen. Du aber hast ihn uns genannt als einen guten Menschen, und er war gut.

Ich verstehe, dass sich die Personalpronomen kongruent zu jemand und Mensch verhalten. Aber, mal darüber nachgedacht: Würden wir das heute noch so sagen, wenn es sich bei dem guten Menschen um einen weiblichen guten Menschen handeln würde? Bricht die Kongruenz die Referenz? I doubt it! – Und das mag man auch als Argument dafür nehmen, dass es mit dem generischen Maskulinum vielleicht doch gar nicht so schrecklich weit her ist. Aber gut.

Gender-Masking als Selbst-Verteidigung in Der gute Mensch von Sezuan

Shen Te wird zu Shui Ta aus Selbstschutz. Doch sagt das unbedingt etwas darüber aus, welche Ideologie das Stück propagiert? Wir haben es mit einem Parabelstück zu tun und damit mit einem Paradestück Epischen Theaters. Im Zentrum des Epischen Theaters steht der Verfremdungs-Effekt, kurz V-Effekt. Der V-Effekt soll Einfühlung verhindern, Identifizierung stoppen. Keine Immersion oder Mimesis. Zuschauer*innen sollen das Menschenwerk auf der Bühne kritisch begutachten. Shen Te bedient sich innerhalb der Handlung des V-Effekts, soll aber auch nicht als Feier herrschender Gender-Politik verstanden werden.

Indem Shen Te versucht, als Frau gut zu sein, als Frau aber objektiviert, ausgenutzt wird, ist es ihre einzige Rettung, sich zu travestieren und in Shui Ta einem maskulinen, durchaus toxischen, durchaus geschäftstüchtigen Gebahren anheimzufallen. Shui Ta ist ihr bester Versuch, sich selbst zu behaupten. Dass die dabei untergeht, ist eine Stärke des Stückes. Aber auch ziemlich oldschool.

Es stimmt, das Shen Te schon arg sentimal gezeichnet ist. Und dass sie in doppelte Abhängigkeit von Männern gerät (Sun & Shui Ta) mag etwas über das Frauenbild der späten 30er Jahre aussagen, warum nicht? Gleichzeitig aber zeigt uns das Stück inwiefern es unter den Vorzeichen des Patriarchats unmöglich ist, Frau und autonom zu sein.

Der gute Mensch von Sezuan als Einladung, selbst produktiv zu werden

Verehrtes Publikum, jetzt kein Verdruß:

Wir wissen wohl, das ist kein rechter Schluß.

Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach:

Sie selber dächten auf der Stelle nach

Auf welche Weis dem guten Menschen man

Zu einem guten Ende helfen kann.

Der gute Mensch von Sezuan ist kein Stück eines über alle Fehler, ideologischen Idiosynkrasien und Sexismen erhabenen Dichtergottes. Das Stück in Bausch und Bogen als obsolet zu betrachen, ist aber – bestenfalls – borniert. Brechts Exilstücke gehören imho mit zum Besten, was das deutschsprachige Theater im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat und zwar vor allem: weil der erhobene Zeigefinger längst nicht so eregiert ist, wie er’s zu Beginn des 3. Jahrtausend gerne ist. 

In Der gute Mensch von Sezuan geht es eher darum, selbst anzupacken. Produktiv zu werden. Freiheit zu ergreifen. Und so ist auch das Hinnehmen eines kulturindustriell fabrizierten Schlusses ist eine Art der Entfremdung. Brecht macht das nicht mit. Hier ruft uns das Stück zum Weiterdichten auf:

Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß!

Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!


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