Herbst (2)

Heute ist es kalt wie im Herbst. Die Leute an der Bar bestellen Tee. Ende Juni. Ich sitze drinnen und schreibe weiter, denn Yeliz fragt unaufhörlich „Was ist passiert?“ und ich antworte seit Wochen „Diese Frage kann Literatur nicht beantworten“ und schreibe weiter:

„Kurz darauf entfesselte sich der Wahnsinn der Welt. Man stellte mich an die Wand wie viele andere auch. Weswegen? Wegen nichts. Die Gewehre gingen nicht los. Ich sagte bei mir: Gott, was machst du? Ich habe dann aufgehört, mich unsinnig aufzuführen. Die Welt zögerte – und kam dann wieder ins Gleichgewicht. Mit der Vernunft kam mir auch die Erinnerung zurück, und ich sah, daß ich selbst an den schlimmsten Tagen, wenn ich mich ganz und gar unglücklich glaubte, fast immer äußerst glücklich war. Das gab mir zu denken.“

Maurice

erzählen

Es ist Sommer. Ich war am Rhein. Dort habe ich den Kurs für den Abend vorbereitet. Über Mittag, als es besonders heiß war, saß ich mit Yeliz in der Bibliothek. Sie fragt, warum ich hier bin. Einfach ist es nicht, das zu erzählen. Aber welche Geschichte lässt sich leicht erzählen. Yeliz bat mich, weiterzuschreiben.

Maurice

blicken

Ein neuer Gast ist im Hotel. Es ziehen täglich Menschen ein und aus. Er ist mir aufgefallen und ich werde ihn nicht vergessen. Ein Herumsteher. Blickte sich in der Lobby um. Blickte und blickte. Kartografierte den Raum. Fenster, Mann, Rezeption, Frau, Klingel, Mann, Durchgang zum WC, Pflanze, Sofa, Frau, Frau, Pflanze, Fenster, Sessel, Mann, Drehtür. Er warf den Dingen und Menschen Blicke zu. Sie nahmen sie nicht auf und so musste er lange da herumstehen. Ich saß auch in der Lobby und sah ihm dabei zu. Auch ich nahm keinen seiner Blicke auf. Am Ende setzte er zum Sprung an. Die Rezeptionistin schaute kurz auf, lächelte, tippte seine Daten in den Computer und legte einen Schlüssel auf die Rezeption. Dann verschwand er.

Maurice

Geld

Yeliz habe ich ein paar Tage nicht gesehen. Das letzte Mal saß sie in der Bibliothek und hat geschrieben. Ich wollte sie nicht stören. Langsam geht mein Geld aus. Irgendwas muss ich mir einfallen lassen.

„Ist mein Dasein besser als das der anderen? Das mag sein. Ich habe ein Dach über dem Kopf, viele nicht. Ich bin nicht aussätzig, und ich bin nicht blind, ich sehe die Welt, welch außergewöhnliches Glück! Ich sehe den Tag – den Tag, außerhalb dessen nichts ist. Wer könnte mir das nehmen? Und wenn dieser Tag verlischt, verlösche ich mit ihm; dieser Gedanke, diese Gewißheit versetzt mich in Entzücken.“

Ein paar Stunden als VHS-Lehrer? Da kann man auch abends arbeiten. Das würde mir gefallen.

Maurice

Laurie kommt und Japaner lassens krachen

Ich bin extra hergekommen, um sie bei der Lesung zu sehen. Ein Umweg übers Rheinland. Auf dem Weg von Karslruhe nach Hamburg. Am Wochenende treffe ich Freunde hier, sie stehen auf Mangas und sind ganz aus dem Häuschen weil Japantag ist. Ich war noch nie da. Das Hotel ist echt billig. Also manche Zimmer. Und die Bibliothek ist komisch. Hier ist immmer so ein Typ.

„Dieses Buch hilft euch nicht dabei, einen Mann zu finden, eure Frisur zu richten oder euren Job zu behalten. Dieses Buch handelt von Liebe und Sex, Schönheit und Ekel, Macht, Leidenschaft und Technik. Es handelt vom intimen Territorium des Tumults. Ich schrieb es in fremden Städten, im Gespräch mit halbwüchsigen Ausreißerinnen, radikalen Feministinnen, Anarchistinnen, Hipstern, Sexarbeiterinnen, verrückten Künstlerinnen, verurteilten Verbrecherinnen, transsexuellen Aktivistinnen und traurigen jungen Kleinstadtbewohnerinnen, die sich nach Abenteuern sehnten.
Das Buch richtet sich an die anderen, die sich nie zufrieden geben, denen es nie gut genug, denen es nie frei genug ist, wenn nur ein paar gleichberechtigt sind. Es ist für die Unsäglichen, die Unnatürlichen, die, die andere verschrecken. Die nicht tun, was man ihnen sagt. Die den Mund aufmachen, wenn sie es nicht sollen, und die nicht auf Knopfdruck lächeln. Die schräg sind und immer zu viel wollen. Wenn ihr so jemand seid oder sein könntet, dann ist dieses Buch für euch.“

Ich lese natürlich weiter.

Stella

schreiben

Yeliz hat gesagt, ich soll aufschreiben, was ich ihr erzählt habe. Sie ist mir sympathisch, ich mache es:

„Ich bin umhergeirrt, bin von Ort zu Ort gegangen. In Zeiten der Ruhe hielt ich mich in einem einzigen Zimmer auf. Ich war arm, dann reicher, dann wieder ärmer als viele. Als Kind hatte ich heftige Leidenschaften, und alles, was ich begehrte, erhielt ich. Meine Kindheit ist verschwunden, meine Jugend dahingegangen. Was liegt daran! Ich bin glücklich über das, was war, was ist, gefällt mir, was kommt, kommt mir recht.“

Maurice

nichts

 

Ein Auszug aus Mozarts Tagebuch. Es ist also schön,  wenn man nichts erlebt. Ist es das? Inwiefern kann man „nichts“ erleben?  Vielleicht wenn man bloß rum sitzt. Oder wenn man keine Fortschritte erzielt. Ja, das wird es sein. Keine Fortschritte. Ich hasse es, wenn ich in meiner Entwicklung stehen bleibe. Ich muss mich wieder weiter entwickeln. Das war ein Zeichen!

Natascha

Giraffensuperkraft

Gott sei Dank. Die Giraffe ist wieder da.
Sie stand in der Bibliothek – komischer Ort für so ein Tier. Savanne würde besser passen.
Ist auch ganz egal. Hauptsache sie ist wieder aufgetaucht.

Wenigstens eine Konstante, eine Gewohnheit, ein Vertrauter. Die Giraffe ist wirklich alles, was sie im Moment noch an die guten Dinge glauben lässt und sie tröstet, wenn Mama es nicht kann. Eine Giraffe mit Superkräften, die einspringt, wenn Mama einfach selbst zu traurig ist.

Marie

lesen

Mit Yeliz in der Bibliothek, sie ist kurz raus, holt was zu trinken, sie weiss auch nicht, wo die sieben ist, ehrlich gesagt, bin ich ganz froh darüber, ich lese weiter: Es scheint, dass wir etwas über die Kunst lernen, wenn wir erfahren, was das Wort „Einsamkeit“ bezeichnen möchte. Diese Wort wurde vielfach missbräuchlich verwendet. Doch, „einsam sein“, was bedeutet das? Wann ist man einsam? Sich diese Frage zu stellen, soll uns nicht nur zu pathetischen Meinungen führen. Die Einsamkeit auf der Ebene der Welt ist eine Wunde, zu der hier nichts weiter auszuführen ist.

Maurice