Ich weiß nicht, I Don't Know.

Gottlob Frege über Gregor Weichbrodts „I Don’t Know“

Google „ich weiß nicht, was“ und heraus kommt immer nur Heine. Schade.

Gar nicht so sehr wegen Heine und auch gar nicht so sehr wegen der Loreley, das ist schon in Ordnung so, aber schade ist es, dass ich dadurch nicht mehr an dieses Gedicht rankomme… Dieses Gedicht, das mir irgendwann einmal… Ja, aber was eigentlich? 

Ich weiß nicht, was. Dieses Gefühl eben, das sich gar nicht mal an ein Tatsächliches zu binden braucht. Ich glaube, es gäbe da dieses Gedicht mit dem Vers „ich weiß nicht, was.“ Ich glaube, so endete das Gedicht. Ich glaube. Aber so richtig sicher bin ich mir auch nicht mehr und da kommt auch schon das Gedröhne von Peter Schreyer Ich weiß nicht, was soll es usw.

I Don’t Know? Do I?

Aber ist auch gut so. Bewahrt vor Kitsch. Und dann, wenn man gerade mal so ein bißchen gefühlig, bißchen rührig, bißchen kitschig (und damit gefährlich präfaschistoid wird), dann kommt da einer und bewahrt einen vor diesem Quatsch. Die Rede ist – natürlich (?) – von Gregor Weichbrodt und seinem … I Don’t Know.

I Don’t Know ist eine Art Buch. Eine Art, das heißt, es ist ein Buch, es kann eines sein. Man kann es bestellen, hier zum Beispiel, es ist auf Verlagen ein Buch – und vielleicht ist genau das sein Sinn: Auf Verlangen ein Ding zu sein.

Vielleicht ist es nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, I Don’t Know ist ein Versuch. Aber der Reihe nach…

Das Ganze ist inzwischen sieben Jahre her – ich hab’s aber erst gestern vor einem Jahr erfahren (und das stimmt sogar). Gregor Weichbrodt veröffentlicht ein PDF, das sich einem Programm verdankt. 

An algorithm combs through the universe of online encyclopedia Wikipedia and collects its entries. A text is generated in which a narrator denies knowing anything about any of these entries.

https://gregorweichbrodt.de/project/i-dont-know.html

Das ist eine ziemlich knappe Erklärung, aber sie würde eigentlich schon ausreichen um zu verstehen, worum es geht. Ein Text, der im Prinzip aus zwei Elementen besteht: Einerseits die Titel zufälliger Wikipediaartikel, andererseits ein Erzähler, dessen Register aus möglichst vielen verschiedenen Unkenntnisbekundungen besteht.

Oder eben Frege

Man könnte aber auch Frege bemühen: Die Wikipediatitel (so kann man sie wohl nennen) sind die Argumente, die Unkenntnisbekundungen die Funktionen. 

Nun pflegt man freilich bei dem Worte „Funktion“ an Ausdrücke zu denken, in denen eine Zahl durch Buchstaben nur unbestimmt angedeutet ist, wie etwa

2 ⋅ x³ + x

Frege, Gottlob (2008): Funktion und Begriff, Vandenhoek und Ruprecht, S. 5.

Schritt 1 absolviert. Wie geht’s weiter?

Man nennt das x das Argument der Funktion und erkennt in

2 ⋅ 1³ + 1

2 ⋅ 4³ + 4

2 ⋅ 5³ + 5

dieselbe Funktion wieder, nur mit verschiedenen Argumenten, nämlich 1, 4 und 5.

ebd.

Auch dafür reicht’s bei mir noch irgendwie. Weiter?

Daraus ist zu ersehen, daß in dem Gemeinsamen jener Ausdrücke das eigentliche Wesen der Funktion liegt; d.h. also in dem, was in 

2 ⋅ x³ + x

noch außer dem x vorhanden ist, was wir etwa so schreiben könnten

2 ⋅ ( )³ + ( )

ebd.

Alles klar. Mit Mathe hat das eigentlich nix zu tun, deswegen versteh sogar ich es. „Das Argument gehört nicht mit zur Funktion“, sagt Frege, sondern erst mit der Funktion zusammen bildet es ein Ganzes. Aber was hat das jetzt mit Gregor Weichbrodts I Don’t Know zu tun?

Der Text geht folgendermaßen los:

I’m not well-versed in Literature. Sensibility – what is that? What in God’s name is An Afterword? I haven’t the faintest idea.
And concerning Book design, I am fully ignorant. What is ‘A Slipcase’ supposed to mean again, and what the
heck is Boriswood? The Canons of page construction
– I don’t know what that is. I haven’t got a clue. How
am I supposed to make sense of Traditional Chinese bookbinding, and what the hell is an Initial?

https://gregorweichbrodt.de/project/i-dont-know.html

Oder, um Freges Anmerkung aufzunehmen:

I’m not well-versed in ( ). ( ) – what is that? What in God’s name is An ( )? I haven’t the faintest idea.
And concerning ( ), I am fully ignorant. What is ‘A ( )’ supposed to mean again, and what the
heck is ( )? The ( ) – I don’t know what that is. I haven’t got a clue. How am I supposed to make sense of ( ), and what the hell is an ( )?

https://gregorweichbrodt.de/project/i-dont-know.html

Beziehungsweise die Argumente:

LiteratureSensibilityAfterwordBook designSlipcaseBoriswoodCanons of page constructionTraditional Chinese bookbindingInitial

https://gregorweichbrodt.de/project/i-dont-know.html

Über die Länge des Textes wiederholen sich auch die Beteuerungen des Erzählers und dabei passiert letztlich sogar etwas, es entsteht so etwas wie Handlung. Tatsächlich. Entlang der Argumente, der entries, vollziehe ich im Lesen die Verlinkungen der Wikipedia nach. 

Während mich andere Romane von Ereignis zu Ereignis wandern lassen, sind die Ereignisse hier tatsächlich Suchereignisse. 

So nach 20 Seiten ist der Effekt – wenigstens bei mir – auf seinem Höhepunkt angelangt, dann macht das Lesen richtig spaß.

Zur Wahrheit gehört leider auch, dass der Effekt nach 21 Seiten schon wieder abgeflaut ist.

Gregor Weichbrodt: Witzloser Effekt?

Aber vielleicht geht es gar nicht so sehr um einen ästhetischen Effekt. Vielleicht wird die Ästhetik hier bloß subversiv eingesetzt, vielleicht wird sie lediglich missbraucht.

Die Sätze „Ich weiß es nicht“ oder „Ich habe keine keine Ahnung“ haben wir aus unserem Sprachgebrauch verbannt. Wir haben uns abgewöhnt, unser begrenztes Wissen vor anderen preiszugeben. Wir wissen nicht viel – antworten aber trotzdem immer. Es funktioniert wie ein stillschweigendes Einverständnis, mit dem wir unter uns die Illusion aufrecht erhalten, wir wüssten mehr, als wir in Wirklichkeit zugeben können. Ich weiß es nicht.

Okay, also irgendwie geht es vielleicht genau darum, das heißt: um Nichtwissen und die Unfähigkeit, es zuzugeben. Das Buch ist also exemplifizierte Katharsis. Und ein Stückchen Tourette. Das ist die eine Seite.

Die andere ist, dass man über das Lesen tatsächlich einen Teil seiner Unkenntnis ablegt. 

I’m not familiar with Sportspeople from Oslo. Who is this Ragnvald Olsen guy? Who on earth is Wollert Nygren, Patrick Thoresen or Amund Skiri? Search me.

https://gregorweichbrodt.de/project/i-dont-know.html

Wir lernen – an der Maschine. Die Funktion bleibt zwar die gleiche, weil aber die Argumente erst spezifischer und dannwieder allgemeiner werden, lernen wir alle, die wir diesen Text lesen, etwas über Sportspeople from Oslo. Wir werden in der Folge bekannt mit Sportlern aus Oslo, genauso wie wir nach dem Text wissen, wer Ragnvald Olsen ist, wer Wollert Nygren usw. Wir wissen nicht viel, aber wissen: Es sind Sportler aus Oslo.

Was weiß der, der etwas weiß?

Das führt allerdings gleich eine neue Erkenntnis ein und die hat es, finde ich, in sich. Denn eigentlich ist es ziemlich wenig Kenntnis, die darin besteht den Namen Wollert Nygren mit der Umschreibung Sportler aus Oslo zu verknüpfen. Weiß man jetzt wirklich wer Wollert Nygren ist? Man kann etwas über ihn Prädizieren, aber über was kann man nichts prädizieren. Jedem Wort kann man Eigenschaften zusprechen. Und ja, das meiste Wissen, von dem wir glauben zu wissen, dass es Wissen sei, ist solch ein Wissen, ein Wissen also, das gar kein Wissen, sondern nur eine ziemlich witzlose Prädikation ist. Und Witz kommt von Wissen, wie man weiß. Oder?

Und genau da sind wir wieder bei Frege angelangt.

Die verschiedenen Sätze wie „What the fuck is ( )“ oder „What is ( ) supposed to mean again?“ oder „( ) – not my field“ kann man nun eigentlich nicht so richtig als die gleiche Funktion bezeichnen, offensichtlich unterscheiden sie sich ja, und das syntaktisch sogar ziemlich deutlich. Einmal ist die Leerstelle am Ende, einmal in der Mitte, einmal am Anfang. Nicht die gleiche Funktion, aber doch der gleiche Funktionswert.

Wenn wir schreiben

x² – 4x = x (x – 4)

so haben wir nicht eine Funktion der anderen, sondern nur die Funktionswerte einander gleichgesetzt.

Frege 2008, 7.

Was aber ist ein Funktionswert? Frege sagt, „der Wert unserer Funktion ist ein Wahrheitswert“ (ebd.). Die Funktionen wechseln, der Gedanke nicht:

Wenn der Wert der Funktion x² = 1 für ein Argument, z.B. 2, das Falsche ist, so werdem wir das auch so ausdrücken können: „2 ist nicht die Quadratwurzel aus 1“. Wir sehen daraus, wie eng das, was in der Logik Begriff genannt wird, zusammenhängt mit dem, was wir Funktion nennen. Ja man wird geradezu sagen können: Ein Begriff ist eine Funktion, deren Wert immer ein Wahrheitswert ist.

ebd., 11.

Bei Weichbrodt bestehen die Begriffe in diesem „What the fuck is ( )“ oder „What is ( ) supposed to mean again?“ oder „( ) – not my field“.

Nach Frege könnten diese Begriffe, mit den richtigen Argumenten gesättigt, das Wahre bedeuten. Verwendet man hingegen die falschen Begriffe ergibt sich der Wahrheitswert des Falschen. Bei Weichbrodt ist der Gag aber nun, dass die Begriffe mit allem gefüllt werden können, was Wikipedia zu bieten hat. In der englischen Version sind das mittlerweile über 6 Millionen Artikel. 6 Millionen mögliche Argumente, keines falsch, immer nur der Wahrheitswert des Wahren.

Und vielleicht ist genau das auch die Wahrheit von Weichbrodts I Don’t know. Ich weiß es nicht. Und das wiederum ist ziemlich wahr.


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