Über Kubricks A Clockwork Orange sagte mal jemand: „Ein Film wie ein Zugunglück. Man will ihn nicht sehen – und muss doch hingucken.“ Es braucht nur ein Wort ausgetauscht werden und das Zitat ließe sich auch auf Ruth-MariaThomas‘ Debütroman Die schönste Version anwenden. Ein Buch, so brutal, verstörend und faszinierend wie eine Katastrophe. Wohl auch, weil in ihm gleich mehrere Katastrophen in ihrer eskalierenden Vernetzung gezeigt werden.
Protagonistin Jella ist nicht nur mit einem jener stigmatisierenden Namen geschlagen, die das Herkunftsmilieu bei jeder Kontrolle, jedem Behördengang und jedem Kaufvertrag laut herausbrüllen. Jella lebt auch dort, wo die Leute traditionell nur weg wollen: in der östlichsten Ecke Deutschlands, der braunkohleschweren Lausitz. Das schöne Brandenburg mit seinen Wölfen, Birnbäumen und lauschigen Seen ist hier weit weg. Hier schlägt der Strukturwandel unerbittlich zu und deformiert damit die Herzen und Seelen der Bewohner:innen.
Die schönste Version. Nur wessen?
Jella ist auch Scheidungskind, vorzeitig erwachsen – ohne jemals wirklich erwachsen werden zu können. Sie trägt Verantwortung, die sie gar nicht tragen kann – doch daran zerbricht sie nicht. Genauso wenig wie an den Zumutungen, die ihr ganzes Umfeld ihr anträgt. Und sie zerbricht auch nicht, als ihre (vermeintlich) große Liebe Jan sie würgt, schlägt und misshandelt. Denn genau das ist dieser Roman: Ein Roman über die Gewalt in intimen Beziehungen und wie diese Gewalt sich Bahn bricht.
Die schönste Version zeigt, dass Gewalt nicht da anfängt, wo A B ins Gesicht schlägt. Gewalt ist subtiler, kommt unter Masken daher, ist ein schleichendes Gift, das Handeln, Denken und Fühlen ganzer Bevölkerungen vergiftet. Jellas Martyrium hat schon lange, bevor sie Jan überhaupt kennengelernt hat, begonnen. Ihre Sozialisation unter den Vorzeichen, Imperativen und Normalitäten des Patriarchats erleben Leser:innen in Rückblenden mit. Parallel aber wird gezeigt, wie Jella wächst, wie sie auftaucht aus einem Netz, das ihr zum Verhängnis werden wollte, aber sie nicht einwickelt. Jella ist ein Opfer von Gewalt und doch hat es den Anschein, dass sie genau dadurch erst erfährt, wer sie überhaupt sein könnte. Und damit wird der Status als bloßes Opfer überwunden.
Ruth-Maria Thomas: Anklagen ohne erhobenen Zeigefinger
Der Roman gewinnt durch seine radikale Perspektivierung. Es ist Jellas Text: ihre Gedanken, ihre Sprache. Paradoxerweise gelingt es dem Text dadurch, sich den erhobenen Zeigefinger zu sparen. So schrecklich das Thema ist, so lakonisch vermag Jella davon zu berichten. Es ist immerhin ihre Normalität, es ist ein Leben, das wir in seinen (paar) Höhen und (den vielen, vielen) Tiefen miterleben dürfen.
Ruth-Maria Thomas dürfte wissen, wovon sie schreibt. Sie stammt aus der Region, ist in einem Alter mit Jella. Ob Autobiographisches eingeflossen ist – oder ob es die professionellen Erfahrungen waren, die Thomas als Streetworkerin machen konnte. Letztlich dürfte das egal sein. Die schönste Version ist auch ein Zeitroman. Und ein Roman, der in der Tradition von Realismus und Neuer Sachlichkeit steht.
Für wen das Buch etwas ist. Und für wen erst Recht.
Sicher ist Die schönste Version keine erbauliche Literatur. Ein Buch wie ein Zugunglück? Ja, doch eines, bei dem man zu Beginn noch nicht so weiß, was und vor allem wieviel eigentlich passiert ist. Den Leser:innen bleibt nichts, als sich auf den Weg zu machen und nachzuschauen. Und dabei bleibt der eine oder andere unangenehme Blick in die eigenen Abgründe nicht aus. – Und falls doch, dann sollte das zu denken geben.
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