Ricarda Huch: Die Nacht (1917)

In langen Gewandes Falten
Schwankt traurig die Nacht vom Berge;
Und aus den verborgenen Spalten
Kriecht heimlich die Schar der zwerge
Und leuchtet ihr mit Karfunkeln.
Sie sucht ihren Spießgesellen
Und gießt in den Wald, den dunkeln,
Viel silberne Tränenwellen.
Ich wandre auf finstren Wegen,
Ich fürchte die öde Kammer;
Wo gestern mein Glück gelegen,
Da kauert und stöhnt der Jammer.
Mir graut vor dem Kameraden,
Ich irre in Träumen lieber
Auf einsamen Waldespfaden.
Da geht mir die Nacht vorüber,
Sie sucht und sie ringt die Hände,
Die glänzen wie Mondenschimmer.
Längst starb er; sie sucht ohn‘ Ende
Und findet ihn nimmer, nimmer.

Grade so gemeinfrei: Ricarda Huch

Ein Gedicht, das gerade so gemeinfrei geworden ist – es lebe das Urheberrecht! Oder vielmehr der Zeitpunkt, an dem es erlischt.

Ein Gedicht, das man nicht mögen muss, das man aber (bestimmt) mögen kann. Jedenfalls ein Gedicht, das sich durch eine poetische Ambivalenz auszeichnet und sich einfach nicht auf einen Nenner bringen lassen will – was schon mal gut ist.

Gleichzeitig ist es aber ein recht – nun, ich will nicht sagen konventionelles, aber doch, es ist ein recht konventionelles Gedicht, wenigstens auf der formalen Ebene, der ich mich zuerst widmen möchte.

Formale Aspekte von: Die Nacht

Eine Überschrift, die selbst nicht der poetischen Ambivalenz entbehrt, die ich aber leider durch spießiges Rhythmusgeklopfe wieder vereindeutigen, also runterbrechen, also zerstören muss: Versmaß!

Insgesamt 20 Verse, von denen 18 folgendes Schema aufweisen:

xXxxXxXx

Zwei, nämlich Vers 3 und Vers 9, sind so zu betonen:

xXxxXxxXx

Es fällt also auf, dass Vers 3 und 9 um eine Silbe länger sind als die anderen Verse. Warum? Ich würde vorschlagen, dass nach den beiden eröffnenden Versen, die man selbstverständlich als Exposition lesen kann, durch Vers 3 eine neue Dynamik ins Spiel gebracht wird. In den ersten Versen ist die Nacht, natürlich personifiziert (für die angehenden Deutschlehrer unter euch), ja eher verhalten mobil. Ein langes, ich würde sagen: schleppendes Gewand, ein schwankender, ich würde sagen: schleppender Gang – die Nacht ist nicht eben leicht unterwegs. Das unterstreicht das Metrum: Auftakt, Daktylus, Trochäus, Trochäus. Drei Hebungen, die sich anhören wie drei Gähnungen.

Ricarda Huch: Nicht mal den Dialekt als Ausrede

Anders in Vers 3. Auftakt, Daktylus, Daktylus, Trochäus. Das Wuselnde der Zwerge wird durch den Vers noch untermalt. Da hat jemand bei Wagner gelernt.

In Vers 9 wiederum tritt eine veränderte Sprechsituation ein. Es ist nicht mehr die 3. Person Singular, die die Rede strukturiert, sondern die 1. Person Singular. 

Ein bißchen spekulativ, aber man kann die zusätzliche Silbe wiederum als Dynamisierung fassen, da durch den Wechsel des erlebenden Subjekts eine höhere Intensität erreicht wird. 

Ist das unklar? Ja, denn ich habe zuvor noch etwas zum Subjekt zu sagen – kommt aber erst gleich, nach der nächsten Überschrift. 

Zunächst noch kurz und schmerzlos das Reimschema. Klar, ein Kreuzreim, der auf klingende Kadenzen endet. Okay, einmal wird das beinahe gebrochen, wenn -ieber auf -über gereimt wird und da es sich bei Ricarda Huch um eine Niedersächsin und keine Sächsin gehandelt hat, hat sie noch nichtmal die dialektale Ausrede. Es ist also einfach ein unreiner Reim. Spannend ist das nicht.

Die Nacht: Wer spricht?

Einfach wäre zu sagen, dass das angebliche lyrische Ich durchgängig spricht, nur dass es eben von Vers 9 bis Vers 16 von sich und nicht von der Nacht spricht. Das ist die einfachste und sicher irgendwie auch plausibelste Einschätzung.

Und die langweiligste. Denn:

Zunächst könnte man unterstellen, dass ab Vers 9 die Nacht zu sprechen beginnt, sie ergreift das Wort. Das funktioniert aber nur bis Vers 16: „Da geht mir die Nacht vorüber“. Die Nacht wird in einem Satz mit dem Personalpronomen 1. Person Dativ genannt. Klassisch Subjekt-Objekt. Oder?

Nicht zwingend. Die Nacht, die einem vorüber geht, das könnte auch eine Phrase, ein Sprichwort sein, so „It’ll pass time“-mäßig. Die Situation, dass die Nacht selbst ab Vers 9 spricht, lässt sich also bis Vers 16 durchhalten. 

Dann aber kommt Vers 17, ein Relativsatz, der die Nacht in dritter Person anspricht und sie wiederum objektiviert. Also selbst wenn die Nacht in Vers 16 sagen würde, dies und das vertriebe mir die Nacht, was sie könnte, aber was irgendwie auch ein wenig, naja, dissoziativ wäre, so würde Vers 17 das gnadenlos kassieren. – Es. Sei. Denn!

Dissoziation: Ricarda Huchs Nacht

Dissoziation ist hier das Zauberwort. Es ist die Nacht, die spricht. Aber diese Nacht ist natürlich nicht der Zeitraum, in dem die Sonne die andere Seite der Erde anstrahlt. Diese Nacht hier ist eine lyrische Nacht. Eine Nacht, die traurig von den Bergen herabschwankt, hat natürlich noch etwas von der Nacht, wie man sie so kennt, wobei eigentlich die Berge das letzte noch Erhellte sind. Nächte kriechen an Bergen hinauf, in der Regel. Bergspitzen fangen noch die letzten Sonnenstrahlen und aus dem Tal dampft es Nacht. Was also? Hier sind schon grundsätzlich die Verhältnisse verschoben. Nicht nur, dass die Nacht laufen kann, Kleidung trägt, sie kommt den falschen Weg.

Mit anderen Worten: Von Anfang an ist in diesem auf den ersten Blick konventionellen Gedicht also eine tiefe Ambivalenz. Und diese Ambivalenz setzt sich eben auch in der Rede fort, denn natürlich ist es die Nacht, die spricht und nicht irgendein plötzlich ohne Not zusätzlich eingeführtes Subjekt. Wobei, selbst wenn es ein ohne Not zusätzlich eingeführtes Subjekt wäre, warum sollte dieses Subjekt nicht mit der Nacht identisch sein? Es liegt also durchaus im Bereich des Möglichen, dass zunächst ein Subjekt die Nacht als Objekt anspricht, ihr eigenes Empfinden (den Verlust des Spießgesellen, Kameraden) auf sie projiziert, sich von Vers 9 bis Vers 16 mit ihr identifiziert und dann am Ende wieder eigene, subjektive Kontur gewinnt, sich wieder von ihr scheidet.

Die Nacht als Sehnung

Das ist möglich – macht aber eigentlich keinen fundamentalen Unterschied zu der Lesart, dass es die Nacht ist, die zunächst geschildert wird, danach selbst spricht und dann irgendwo im Raum zwischen Vers 16 und 17 auseinanderbricht, wieder von außen betrachtet wird. Der fundamentale Unterschied liegt im präsupponierten lyrischen Ich, das als von der Nacht getrennte Entität gedacht wird. Was auch möglich ist, hab ich ja schon gesagt, ist aber gleichzeitig auch ein bißchen, naja, langweilig, weil es die Ambivalenz des Gedichtes einfach überliest in einer Hoffnung Sinn herzustellen, wo Sinn sich entziehen möchte.

Denn was ist das Ding mit der Nacht? Die Nacht ist die Zeit des Schlafs der Vernunft, der Ungeheuer gebiert. Die Nacht ist die Zeit, in der die Aufklärung im Bett liegt und ihre schönen Subjekt-Objekt-Grenzen einfach verschwimmen. Und weil die Nacht auch die Abwesenheit eines klaren Lichts ist, weil die Nacht diffus ist, ist sie auch die Zeit der Dissoziation.

Aber worum geht’s?

Ich würde sagen, dass die Nacht hier stellvertretend für ein Gefühl der Sehnsucht steht. Bla. Nicht besonders deep. Aber es ist eine Sehnsucht, die, wie das eigentlich auch schon im Wort Sehn-Sucht steckt, niemals erfüllt werden kann. – Und wonach hat die Nacht unstillbare Sehnsucht? Nach ihrem Spießgesellen, nach ihrem Kameraden – und der ist? Wer, wenn nicht der Tag? 

Sie sucht ihn mit allem, was ihr zur Verfügung steht. Mit „Karfunkeln“, mit „Mondenschimmer“, mit „silbernen Tränenwellen“… Aber was ist das schon? Das sind nur Reflektionen des Licht des Tages, toter Abglanz, vielleicht sowas wie Irrlichter.

Die Nacht sucht den Spießgesellen, aber gleichzeitig „graut ihr vor dem Kameraden“ – Grauen? Naja, wie in Morgen-Grauen. Und gleichzeitig eben auch wie in grauenvoll, denn wenn die Nacht ihren Kameraden mal gefunden hat, dann ist es eben mit ihr zu Ende, dann stirbt sie, weil der Tag nunmal das Ende der Nacht und umgekehrt ist.

Wie passt es dann aber, dass Tag und Nacht mal eines waren? Schaut mal hier! Natürlich waren Tag und Nacht mal eines. Als es weder eines noch anderes gab, als alles eins war und exakt diesen Zustand ersehnt die Nacht ohne ihn je erreichen zu können.

Und was heißt das?

Das heißt, dass es letzten Endes natürlich überhaupt nicht um die Nacht geht, sondern ganz einfach um das menschliche Wesen, das sich seit Anbeginn der Zeiten nach der Zeit vor der Zeit zurücksehnt und die mag er nun Goldenes Zeitalter, Prähistorie oder paradiesische Tage nennen. Das Gedicht handelt von Sehnsucht, von echter Sehnsucht – und das ist eine, die weiß, dass Erfüllung ihr Tot wäre.


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