von Kaaron Warren, aus dem Englischen übersetzt von Mandy Bartesch, Ava Braus und Lina Langpap, illustriert von Anika Klose
Es dauerte eine Weile, bis ich begriffen hatte, worin der Unterschied zwischen Männern und Geistern besteht: Geister wollen keinen Sex. Sie wollen nur reden, und es machte mir nichts aus, ihnen zuzuhören. Es war angenehmer als das andere, vor allem jetzt, wo ich von meinem Auto aus arbeitete.
Ich hatte festgestellt, dass der Parkplatz am Old Parliament House ein sicherer Ort für die Nacht war. Man fährt nach Mitternacht aufs Gelände, wenn alles schon längst geschlossen ist und die Wachleute kontrolliert haben, dass niemand mehr da ist. Dann parkt man auf der Rückseite in einer der drei Parklücken, wo die Sonne nie draufscheint. Morgens muss man nur darauf achten, dass man vor sechs Uhr, wenn die Sicherheitsleute ihre Runde machen, verschwunden ist, und schon kriegt man gute fünf Stunden Schlaf.
Die Leute von der Zelt-Botschaft[1] gaben auf mich Acht. Mehr als einmal haben sie einen Wichser, der auf mich zukam, verjagt. Einen Wichser erkennt man zwar nicht immer auf den ersten Blick, doch egal, was er anhat oder wer er ist, seine Schultern sind beim Gehen immer irgendwie leicht nach vorne gebeugt, als wäre er ferngesteuert – nicht meine Schuld. Die Kerle von der Zelt-Botschaft müssen ihm nur zurufen und schon haut er ab.
Meistens werde ich aber in Ruhe gelassen. Zum Arbeiten parke ich in Barton, in der Nähe der Regierungsgebäude. Hier treiben sich viele Geister rum, setzen sich bei mir auf den Beifahrersitz und erzählen von all dem, was sie verloren haben. Einige erinnern mich an meinen Dad, deshalb hab ich sie gern um mich.
Dad hat mir beigebracht, wie man mit Geistern spricht, auch wenn mir das damals noch nicht bewusst war. Es ist wie mit der alten Geschichte über diesen Typen, der sich umbringt, nachdem er Schildkrötensuppe gegessen hat, und niemand weiß warum. Es stellt sich dann heraus, dass er einmal auf einer Insel gestrandet war und jemand ihm Suppe gab, in der angeblich Schildkrötenfleisch drin war. Zur selben Zeit verschwand halt jemand auf der Insel und wenn man die Geschichte hört, na klar, dann ist es ja ziemlich offensichtlich, dass die Suppe mit Menschenfleisch gekocht wurde, und erst als der Typ echte Schildkrötensuppe isst, da checkt er es.
Genauso ist es mit mir und meinen Gesprächen mit Geistern. Ich wusste nicht, dass ich es konnte, bis ich es eben wusste.
Dad hat mir also beigebracht, Sachen zu hören, die andere nicht hören. Nach Bildern Ausschau zu halten, die zwar da sind, aber eben nur versteckt unter der Oberfläche. Erst als mir klar wurde, dass manchmal Geister und nicht Männer bei mir im Auto waren, begriff ich, was er mir da eigentlich beigebracht hatte.
„Kleine Jenny Haniver“, nannte er mich, wie diese getrockneten Rochen, die wie Seemonster aussehen. „Kleine Jenny, du musst die schlummernden Organe in dir wecken. Dann hörst du die Dinge, die Hunde anbellen und bei denen sich Katzenohren aufstellen. Du wirst die Bilder aus dem Jenseits sehen.“
Erst später fand ich heraus, dass er damit die Zirbeldrüse meinte und dass die meisten Leute ihn für verrückt hielten. Doch konnten die meisten Leute Geister sehen? Mit ihnen sprechen? Nein, das konnten sie nicht.
Ich glaube, das war sein Geheimnis, das, was ihm einen Blick hinter die Fassade verschaffte.
Das, was ihn umgebracht hat.
Einmal wollte ich in der Nähe des Hotels parken, in dem er umgekommen war, in der Hoffnung, er würde mich aufsuchen, um mit mir zu sprechen. Doch so viele andere Geister – Männer, die mit ihm bei dem Hotelbrand gestorben waren – spukten dort herum und drängten sich wie ein Schwarm Motten an meine Fensterscheiben, sodass ich mich gezwungen sah, wieder wegzufahren. Dad war von einem Geist dorthin geführt worden, der behauptet hatte, meine Mum warte dort auf ihn, damit er sie retten könne. Doch da war sie nicht, also konnte er sie nicht retten. Vielleicht parke ich bald mal wieder dort.
Es war eine anstrengende Woche gewesen. Viele Männer, wenig Geister. Geister bezahlen nicht, aber sie versuchen wenigstens zu helfen. Ich hatte mir beim Inder was zu essen geholt, extra viel, um den Leuten von der Zelt-Botschaft etwas abzugeben. Mir macht es nichts aus, mein ganzes Bargeld auszugeben. Von dem Geld auf der Bank lasse ich aber lieber die Finger, es soll sich schließlich vermehren. Ich möchte nicht wie meine Mutter enden: obdachlos mit Mitte vierzig wegen falschen Entscheidungen. Weiß Gott, wo sie jetzt ist. Aber genau genommen bin ich nicht obdachlos, ich habe ja schließlich ein Auto.
Mit meinem Essen ging ich zur Zelt-Botschaft und die Leute boten mir an, bei ihnen abzuhängen, doch ich wollte nicht stören. Ich machte es mir lieber in meinem Auto gemütlich. Das Haus hinter mir schien zu atmen; die Wände wölbten sich nach außen und zogen sich wieder zusammen. Der Rhythmus beruhigte mich.
Gegen ein Uhr morgens klopfte Cindy also an meine Fensterscheibe. Ich öffnete sie einen Spalt, aber draußen war es so verdammt kalt, dass ich nicht zu viel Luft reinlassen wollte. Der Spalt reichte ihm jedoch als Einladung, denn schon saß er neben mir auf dem Beifahrersitz. Seine Hände waren fettig und schmutzig und ich wollte nicht, dass er etwas anfasste, obwohl er nie einen Abdruck hinterließ.
„Wie geht’s dir, Cindy?“ Ich zündete mir eine Zigarette an. Wahrscheinlich war es keine so gute Idee, im Auto zu rauchen, aber eigentlich mochte ich den Geruch von abgestandenem Rauch. Er erinnerte mich an die Pubs, in die wir gingen, als ich noch klein und Mum schon weg war. Dad setzte mich immer an einem Tisch in der Ecke ab, wo mir die Gäste hin und wieder ihre Aufmerksamkeit schenkten.
Cindy nickte und rieb sich die Nase. „Es ist da unten, ich schwör‘s“, sagte er. Er redete immer von diesen legendären Becken voller Diesel, die die Regierung angeblich im Keller angelegt hatte, für Notfälle in Kriegszeiten. Erst nach seinem Tod hatte er davon gehört und war deswegen nicht gerade erfreut.
„Ich hätte ‘n reicher Mann sein können“, meinte er. Er will, dass ich seinem Bruder davon erzähle. Auf den Gedanken, dass ich vielleicht auch gerne reich wäre, kommt er aber nicht. Das sagte ich ihm und er meinte, hol ihn hierher, dann zeig ich euch beiden, wo es ist. Ihr könnt ja auch beide reich werden. „Vielleicht mögt ihr euch sogar“, fügte er mit diesem typischen Männerblick hinzu.
Ich drückte meine Zigarette aus und kuschelte mich zum Schlafen in meine Decke. Es war schön, Cindy neben mir zu haben, er leistete mir gute Gesellschaft.
Gegen zwei Uhr nachts wurde ich dann aber von einem Dröhnen wach, es klang so, wie wenn man mit nur einem offenen Fenster auf der Autobahn fährt. Cindy klammerte sich an das Armaturenbrett und versuchte, dem Sog standzuhalten, der wie ein Staubsauger an ihm zerrte. Doch schon flog er rückwärts durch die Autotür und die hohen weißen Mauern des Old Parliament House hindurch.
Ich blickte in den Rückspiegel, aber da war nichts. Ich hätte im Auto bleiben sollen, aber meine Neugier war zu groß, also kletterte ich raus und ging zu der Stelle an der Mauer, in der er verschwunden war. Sie war massiv und stabil. Obwohl ich glaubte, einen Dieselfleck erkennen zu können.
Am nächsten Tag schaffte ich es zu duschen und ging anschließend als Touristin zum Gebäude zurück. Es war nicht gerade gut besucht. In den Nachrichten war kürzlich das Gerücht verbreitet worden, das gesamte Gebäude sei mit Asbest belastet oder so etwas. Ganze Schulklassen sollen wohl nach der Besichtigung Atembeschwerden bekommen haben, und nun bleiben die Kinder alle weg. Ich warf meine zwei Dollar in die Spendenbox und lächelte die ehrenamtliche Mitarbeiterin an, eine nette Dame, die aussah, als wüsste sie eine Menge.
„Darf ich eine seltsame Frage stellen?“
„So sind die meisten Fragen, die wir bekommen! Und auf fast alle haben wir auch eine Antwort!“, antwortete sie strahlend.
„Ich hab gehört, dass es im Keller Becken voller Diesel gibt. Aus dem Krieg oder so.“
„Ah ja. Da fragst du am besten Lance. Lance ist unser hauseigener Verschwörungstheoretiker.“
War das nicht etwas unhöflich von ihr?
Lance war etwa so alt wie ich und schien echt nett zu sein. Er interessierte sich wirklich für diesen ganzen Kram und machte mit mir eine private Geister-Tour durch das Old Parliament House. Unterwegs weihte er mich in all den Klatsch und die alten Geschichten über Mord und Totschlag ein und er machte mir vor, wie die Stühle manchmal wie von Geisterhand umgestellt wurden, wenn niemand da war. Er hatte ein paar komische Narben an den Händen, Armen und um den Hals herum, so als wäre er nach einem schrecklichen Unfall wieder zusammengeflickt worden. Ich sprach ihn aber nicht darauf an.
Er sagte, von einem Dieselbecken habe er noch nie gehört, fragte dann aber, wieso ich das wissen wolle, was seltsam war. Ich sagte ihm einfach die Wahrheit, dass mir der Geist eines Mannes, der zu Summernats nach Canberra gekommen sei, davon erzählt hätte. Er antwortete: „Unter dem Old Parliament House liegen Tunnel, Gänge und Hallen. Manche Tunnel führen nirgendwo hin außer in die tiefste Finsternis. Hinter manchen Türen liegen Erde und Gestein, glatt und hart, wie aus Beton gegossen. Manche Hallen erstrecken sich endlos ins Dunkel. Dort unten haust ein Monster.“
Ich fragte, wer das geschrieben hätte, worauf er behauptete, er sei es selbst gewesen. Mehr wollte er mir nicht über dieses Monster erzählen. Dann meinte er, dass er es mir mal zeigen würde, falls ich mutig genug sei.
Währenddessen bemerkte ich all die Türen, die nicht abgeschlossen waren. All die alten, leeren Büros, so sicher und gemütlich. Die Geister, die ich in den dunklen Ecken herumhängen sah, störten mich nicht. Sie wirkten friedlich und wanderten allein umher.
Nur ein einziger von ihnen versuchte mich näher heranzuwinken. Vielleicht war es Cindy, aber er war zu weit weg, um ihn zu erkennen.
„Es ist warm hier“, sagte Lance. „Du könntest einziehen, ohne dass jemand davon erfährt.“ Er zeigte mir das vierte Untergeschoss, das ich eigentlich gar nicht sehen durfte. Dort unten bewahrten sie die alten Akten auf. Alles war voll von vergessenem Kram; museumsreife Möbel, volle und leere Kisten, sogar alte Türen und Fenster standen lose herum.
Lance erklärte: „Hier kommt niemand gern runter. Hinter jeder Tür lauert ein Geist. Öffnet man eine Tür, kommt der Geist einen holen.“ Er leckte sich die Lippen. „Am Anfang gefällt es einem sogar, da fühlt es sich an wie ein sanfter, und doch leidenschaftlicher Kuss. Aber bald darauf ist man verloren. Deswegen mache ich sowas gar nicht erst.“
Ich hätte ihn leicht dazu bringen können, es doch zu machen, da war ich mir sicher.
„Ich glaub, ich hab Schritte gehört“, sagte ich.
„Hier hört man ständig Schritte“, meinte er. Ich fragte wieder nach dem Monster und wie es dort hingekommen sei.
„Es kam vor langer Zeit aus dem Binnenmeer hierher. Mein Großvater, der sich mit solchem Zeug echt auskennt, hat es mir erzählt. Er sagte, das Monster habe friedlich in der Mitte von Australien gelebt, bis Männer kamen, die Wasser suchten. Sie gruben tief und scheuchten es auf, da hat es einen von ihnen zerfetzt. Sie schossen auf das Monster, hätten es fast getötet, aber es trieb im Wasser davon und schwamm weiter. So landete es in dem unterirdischen See unter dem Old Parliament House.“
Ich glaubte nicht an Monster, jedenfalls nicht an so welche, und ich dachte, mit den Geistern und unheimlichen Schritten würde ich schon klarkommen, falls ich mich hier häuslich einrichten sollte.
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Eine Woche lang traute ich mich nicht, aber dann klaute mir so ein Bastard mein Auto. Ein zahlender Kunde, der dann doch nicht zahlte. Zum Glück hatte ich meine Tasche bei mir, aber alles andere war weg. Ich wusste den Namen, den er mir genannt hatte, aber ohne Kennzeichen und ohne Versicherung war klar, dass ich das Auto nie wiedersehen würde. Leider waren alle meine Klamotten im Auto, aber ich wühlte mich durch die Altkleidercontainer und fand was zum Anziehen. Es würde kalt werden. In dem Outfit hätte ich in dieser Nacht eh keine Kunden gefunden und wohin hätte ich sie auch mitnehmen sollen? Ich machte mich also zu Fuß auf den Weg zum Old Parliament House, schlich zur Rückseite des Gebäudes, kroch unter die Abdeckplane und fand das Schlupfloch, das Cindy erwähnt hatte. Dort hatten er und seine Kumpels sich reingeschlichen. Wie sie wieder rausgekommen sind, hat er mir aber nie erzählt. Er redete nicht gern davon, wie sie starben.
Drinnen sah ich dunkle Fußspuren auf dem Teppich. Ich bückte mich und roch daran.
Diesel.
„Na, auf der Suche nach einem Schlafplatz?“, fragte jemand. Lance war hinter mir aufgetaucht.
„Gehst du eigentlich nie nach Hause?“
Er sagte nur: „Komm schnell mit. Er sagt, er braucht dich.“
Das sagen sie immer, aber dann geht es meistens doch um etwas, das sie auch selbst erledigen könnten .
Das Haus schien zu atmen – ein, aus und ein.
„Wer denn? Cindy?“ Ich hatte Cindy seit jener Nacht in meinem Auto nicht mehr gesehen.
Lance führte mich durch eine Türöffnung mit rostigen Angeln, aber ohne Tür. Dahinter lag ein kurzer Korridor, der so dunkel war, dass man die Hand vor Augen nicht sehen konnte. Mein Handy war im Auto gewesen, Licht hatte ich also auch keins. In dieser Dunkelheit konnte man wirklich gar nichts erkennen, nicht einmal eine Katze hätte etwas gesehen.
Ich wollte zurückgehen, aber ich sah nicht einmal mehr den Lichtstreifen, der durch die Türöffnung hätte fallen müssen.
Warum ging ich weiter? Warum tue ich die Dinge, die ich tue? Die meisten meiner Entscheidungen sind nicht einmal wirkliche Entscheidungen, sondern total impulsiv. Immer nur Mal schauen, was passiert und Warum auch nicht?
Genau wie meine Mutter.
Und auch wie mein Vater, am Ende, kurz bevor er starb. Er klammerte sich noch am Leben fest, aber in seinem Inneren war es dunkel geworden, er war erfüllt von den Geistern, die er gesehen hatte, und seine Schutzwälle waren schon zu brüchig. Und dann war er nicht mehr
∞∞∞∞∞
Noch eine Türöffnung, diesmal mit einer schweren Tür, die ich mit der Schulter aufstemmen musste. Hinter mir fiel sie seufzend ins Schloss.
„Wo ist er, Lance? Bringst du mich zu Cindy?“
„Er ist kein Mensch“, sagte Lance. „Er ist der Besucher aus dem Binnenmeer. Der mich zu dem gemacht hat, was ich bin.“
Seine Stimme klang schrill aber tief, als spräche er durch ein Schilfrohr, oder als hätte er Luftblasen in der Kehle. „Unser ganzes Leben lang suchen wir nach Wasser, und was finden wir? Ja, was finden wir… Ein wundersames, mächtiges Geschöpf, Klauen wie Schwerter und Zähne wie Diamanten.“ Er gluckste mich an und ich wich zurück. Aber es gab keinen Fluchtweg.
„Los, komm“, sagte Lance. „Das ist deine Chance! Nur wenige kommen in diesen Genuss. Du kannst dich glücklich schätzen, junge Dame.“
Dann fühlte ich, wie etwas an mir zerrte und mich mit sich riss, es klang wie der Atem eines Riesen.
Hier entlang, dort entlang, immer tiefer und tiefer hinab. Es sah aus, als hätten mal Leute dort gewohnt, ich sah eine Zigarettenschachtel, leere Bierflaschen, einen Kalender aus dem Jahr 1952, einen Eimer und ein paar alte Klamotten.
Hier unten verbreiteten alte Lampen ein dumpfes Licht, schwach und gelblich, aber immerhin besser als stockdunkel.
„Er will nur deinen Atem. Nur einen klitzekleinen Atemzug“, sagte Lance. Noch eine Tür ging auf und ich spürte einen Sog wie von einem Staubsauger, dann eine Art Luftstoß. Ich konnte kaum noch atmen. Es roch nach tiefem, trüben Wasser, oder wie ein benutztes Geschirrhandtuch, das lange feucht im Dunkeln gelegen hat. Ich hatte schon immer Angst vor tiefem, trüben Wasser, oder zumindest seit wir damals in der Schule den Mekong behandelt haben. In dem Fluss gibt es drei Meter lange Welse. Stachelrochen, die eine halbe Tonne wiegen. Wenn ich nur daran denke, könnte ich kotzen.
„Gold. Wir fanden Gold in der Wüste und nahmen es mit. Es steckte in seinem Fleisch, so wie meine Nana zu Weihnachten Orangen mit Nelken spickte, und so schleppten wir es mit unter die Erde.“
Okay, er musste einfach ein Geist sein, bei dem ganzen Gelaber. „Narren waren wir“, faselte er weiter. „Solche Narren. Aber zumindest haben wir ein Abenteuer erlebt!“ Er atmete aus, so weit ein Toter das eben konnte. „Er ist bloß ein armes, verirrtes Meerestier, es ist die Schuld närrischer Männer, dass er hier gestrandet ist. Narren und Diebe und Lügner und…“ Er wurde plötzlich still. Da spürte ich ein scharfes Stechen, als hielte mir jemand ein Messer an die Kehle, aber da war niemand.
„In seiner Nähe wird dir die Kehle wehtun, solange du noch am Leben bist“, sagte Lance. „Doch danach fühlst du dich besser. Es ist genauso gut für dich wie für ihn.“ Das rüttelte mich endlich auf, denn diesen Scheiß musste ich mir schon mein halbes Leben lang anhören. Es stimmte fast nie, doch das war ihnen egal.
„Ich nenne ihn den Seemönch“, bemerkte Lance. „Er hat da so was an sich. Er ist hier reingeschwommen, da war er noch klein, und dann wurde er so groß, dass er nicht mehr heraus konnte. Seine Arme sind so lang geworden, dass er damit nach Nahrung suchen kann, und so empfindlich, man könnte meinen, sie hätten Augen. Ihm geht die Luft aus.“
Der Geruch von Diesel stieg mir in die Nase, also hatte Cindy vielleicht ja doch Recht. Ich sollte es seinem Bruder erzählen. Vielleicht war er ja ein netter Kerl. Nicht der Hellste, aber wenigstens nett und vielleicht würden ihm meine Macken nicht auffallen. Ich würde ihm erzählen, dass es hier unten Dieselbecken gibt, mit denen wir reich werden können.
Am Ende des Flurs sah ich ein kleines Mädchen. Sie tanzte, wie mit einem Hula-Hoop-Reifen. Ich dachte: Scheiße, hoffentlich muss ich niemanden retten, denn insgesamt fühlte ich mich nicht unbedingt zu mehr in der Lage als weiterzulaufen.
„Cindy wartet auf dich“, sagte Lance, doch er sagte nicht Cindy, sondern irgendeinen anderen Namen. Ich roch Treibstoff, wie bei den Burn-outs während Summernats, nur dass hier keiner meine Titten sehen wollte, und noch was anderes, Salziges, wie Sole? Ich erinnere mich, das Wort mal in der Schule gehört zu haben. Ich hörte ein tiefes Einatmen, es klang fast so, wie ich mir eine Flutwelle vorstellen würde, dann ein Rauschen wie von einem startenden Flugzeug.
Ein tanzender Bär gesellte sich zu dem kleinen Mädchen, was gar keinen Sinn ergab. Ich fragte mich, was ich wohl eingeworfen hatte. Man erinnert sich nicht immer (ist ja auch irgendwie Sinn der Sache) und weiß dann nicht mehr, was echt ist und was nicht.
So ist das Leben.
Es wurden immer mehr Tänzer. Ich hörte Musik, vielleicht das Klimpern eines Klaviers oder eine alte Spieluhr mit Wasserschaden, die auf See verloren gegangen ist, aber trotzdem noch immer ihre Melodie spielt.
„Beeil dich“, raunte Lance. Cindy war mir mittlerweile egal. Ich wollte diese Spieluhr finden und damit abhauen. Der Klang war beruhigend.
Als ich mich dem Ende des Ganges näherte (Ich war bestimmt hundert Meter unter der Erde. Hier gab es keinen Teppich, keine Tapete, nur festgetretenen Lehmboden und raue Holzwände.), glaubte ich, säuberlich gestapelte Knochen zu sehen. Wir gingen weiter und es stellte sich heraus, dass die vermeintlichen Tänzer gar keine Menschen waren oder Bären oder Katzen, sondern lange, graue, fleckig verkrustete Tentakel.
Sie winkten mich heran.
Lance versteckte sich hinter mir. Dort war er sicher vor dem ständigen Ein und Aus, dem Sog. „Geh schon“, flüsterte er.
Ich ging. Vom Geruch des Diesels wurde mir übel, doch wenn ich durch den Mund atmete, konnte ich ihn schmecken, was noch schlimmer war. Ich hielt mir das ungewaschene, nach Hund riechende Sweatshirt aus dem Altkleidercontainer vors Gesicht.
Ein Tentakel griff nach mir, nicht der Arm eines liebevollen Mannes, der mich zu meinem Platz geleitet? Nicht die winzigen Finger eines Babys in meinen? Nein. Der Tentakel schlang sich um meine Taille, erst sanft, dann fester, bis ich nicht mehr atmen konnte. Die Kreatur hob mich hoch und zog mich durch eine letzte Tür zu dem riesigen Dieselbecken.
Die Dämpfe hingen in der Luft wie eine feste, klebrige Masse.
Das Zeug war alt.
„So einsam“, rief Lance. „Er wünscht sich doch bloß einen Freund. Jemanden, der ihn streichelt, bis er verendet.“ Und dann leiser: „Und was zu essen.“
Ich sah Cindy und er war nur noch ein Schatten seiner selbst, kaum zu erkennen. Der Kern seines Wesens fehlte, er war nur noch eine Hülle.
Der Tentakel war schleimig und glitschig, aber ich bin schlank und gelenkig, also wand ich mich aus seinem Griff. Mir tat die Lunge weh, ich rauchte schon viel zu lange, sie war voll im Arsch. Ich sollte aufhören. Ich WÜRDE aufhören.
Tentakel erhoben sich aus dem Wasser, Dutzende von ihnen, manche hielten Überreste von Skeletten hoch, Schädel und Wirbelsäulen, einige schwenkten andere Dinge. In einer Ecke sah ich Geldbörsen liegen, Taschen, einen Haufen Gold am Rande des Dieselbeckens. Die zähe, schwarze Flüssigkeit tropfte von den knotigen, vernarbten Tentakeln.
Ich sah ein Meer aus Gesichtern, so viele waren auf See verschollen und von dem Biest mitgezerrt worden, seine ständigen Begleiter. Es hatte sie zu sich geholt, ihren frischen Atem, den Geruch sauberer Luft.
∞∞∞∞∞
Ich stand im Türrahmen. Ich wollte nicht noch einmal entdeckt werden, also keine plötzlichen Bewegungen. Ich wich zurück, doch Lance war direkt hinter mir. Er war also doch ein echter Mann – kein Geist bekam je einen Steifen.
„Geh schon.“ Mit einer Bewegung aus der Hüfte stieß er mich vorwärts. Ich kam nicht an ihm vorbei, er war doppelt so groß wie ich.
„Was meinst du“, sagte ich zu ihm, während ich mich umdrehte und an ihn schmiegte, „ob wohl jeder Raum hier unten eingeweiht wurde?“ Er bekam große Augen und ließ sich bereitwillig von mir wegführen. Ich war enttäuscht, wie leicht es war.
„Komm mit“, sagte ich. „Wir können nachher zurückkommen und uns dein Haustier angucken.“ Es war mir ein Rätsel, wie ich so ruhig bleiben konnte. Er wäre sicher enttäuscht, sobald er mir die Hosen auszog, denn ich hatte mich eingenässt. Es sei denn, er stand auf sowas. Viele taten das. Wir kamen nicht sehr weit. An einem leeren Büro, etwa fünfzig Meter entfernt von der Stelle, wo das Monster atmete, hielt er an. „Hier rein“, sagte er. Er atmete schwer. Er war etwas übergewichtig, aber wirkte überraschend gut in Form, als er sein Shirt auszog. Ich war diejenige, die außer Atem war.
„In meinem Auto wär es besser“, sagte ich. Ich wollte da raus, aber er schüttelte den Kopf. Ich hoffte, er gehörte zu der Sorte, die danach schläfrig wurde. Während er sich abrackerte, sah ich mich nach etwas um, womit ich ihn schlagen konnte, nicht zu fest, nur gerade fest genug, dass ich ihn wegstoßen und losrennen könnte. Ich musste hier raus.
Er keuchte, die Augen fest geschlossen, als ein Tentakel ihn entdeckte. Er wickelte sich um Lances Gesicht, wie eine Gasmaske oder ein dreckiger Waschlappen, und zerrte ihn mit dem Kopf voran davon. Ich glaube, es hat ihn direkt da getötet, oder wenigstens ausgeknockt, denn sein Körper war schlaff wie eine Puppe, als es ihn wegzog.
Das Haus verstummte.
∞∞∞∞∞
Ein Jahr lang lebte ich in dem Haus. Hin und wieder brachte ich jemanden mit. Es mochte lieber Sportler als Staatsdiener (größere Lungenkapazität). Ich fragte mich, ob es in jener Nacht deshalb Lance und nicht mich gewählt hatte. Hatte es verstanden, dass ich viel besser darin wäre, Freunde zum Übernachten mitzubringen?
Es wollte bloß unseren Atem, also hielt ich meinen an, wenn ich in der Nähe war. Der Trick war, vorher auszuatmen, obwohl man instinktiv eher einatmen will. Man muss aber ausatmen, damit man keine Luftbläschen im Blut hat. Das Monster nahm ihnen den Atem und ließ sie dann gehen, meistens jedenfalls. Es mochte keine verwesenden Leichen. Geister waren aber kein Problem. Geister konnten in der Nähe sein, ohne Platz wegzunehmen. Lance hockte bewegungslos in einer Ecke oder erkundete die Archive und ging durch jede Tür, die er fand.
Es gab so viele Gänge und Flure, nie bemerkte jemand, dass ich da war.
Es gab viele Geister im Old Parliament House.
Dann veränderte sich alles.
Es waren dumme Männer. Immer sind es dumme Männer. Sie wollten das Haus renovieren, umbauen, alles musste schnell gehen, sodass sie mit Schweißbrennern und Masken unten in den Gängen standen und Funken sprühten. Sie wussten gar nicht, wie ihnen geschah.
Die Augen des Monsters glühten wie brennende Laternen. Das erste Mal, dass ich außer den Tentakeln den Rest von ihm sah, war gleichzeitig das letzte Mal, bevor der Diesel in Flammen aufging und ein Jahr und einen Tag lang brannte. Doch davor hatte das Monster noch Tausende sich windender Würmer ausgespuckt. Ich sah zu, wie sie sich durch die Ritzen zwängten und verschwanden, und mir wurde kotzübel.
Ich stelle mir gern vor, dass das Monster einen Weg durch die unterirdischen Kanäle gefunden hat, vielleicht zu einem See oder ins Meer, irgendwohin, wo es die frische Luft atmen kann, nach der es so gierte. Und all die Würmer, die ebenfalls Atem schöpfen wollten?
Die sind im Wasser.
[1] Die Zelt-Botschaft (Tent Embassy) wurde 1972 von einer Gruppe Aboriginals vor dem Old Parliament House in Canberra errichtet, um auf diese Weise für ihre politischen Interessen einzutreten und insbesondere ihre Landrechte und die Souveränität über ihre Verwaltung einzufordern. Bis heute gilt die Zelt-Botschaft als Symbol für den politischen Kampf der Aboriginals.