Der gläserne Wirt

Von Kaaron Warren, aus dem Englischen übersetzt von Ruth Alvermann, Loredana Fiorello, Nina Lang, Sophia Ring und Madeleine Rösler, illustriert von Anika Klose

Sean Miller Skelton zermahlte seine abgeschnittenen Fingernägel zu feinem Staub und rührte sie in den Teig für die Apfel-Zimt-Muffins. Er war seit fünf Uhr morgens auf den Beinen, wie jeden Tag, selbst am Wochenende. Am liebsten öffnete er das Café schon ab sieben Uhr, für die Schichtarbeiter und Herumtreiber. Irgendjemand hatte immer Appetit auf ein heißes Speck-und-Rührei-Toastie oder auf irgendeinen Muffin, Hauptsache einen Muffin. Sie bestellten Tee, einige auch Kaffee. Mit Kaffee hatte Sean so seine Schwierigkeiten. Tee gelang instinktiv, aber Kaffee musste man erst erlernen.

Er rührte ein paar Tropfen von seinem Blut in den Quiche-Mix, fügte gewürfelte Tomaten, Petersilie aus dem Blumenkasten am Küchenfenster und eine Prise frischen Pfeffer hinzu. Nur niemals Salz. Seine Geister mochten das nicht. Wer in Miller’s Café Salz wollte, musste sein eigenes mitbringen, das war bekannt.

Die erste Kundin an diesem Tag war Julie Porter. Sonntags kam sie oft schon früh. Es war ihr lieber, mit vollem Magen in die Kirche zu gehen, sodass sie dort nicht ans Essen denken musste. Sie ging auch gern sicher, dass Sean tatsächlich zum Gottesdienst kam.

„Ich halte dir einen Platz neben mir frei. Du kriegst sogar ein Kissen.“

Das war ein alter Witz im Ort. Der große, dürre Sean hatte angeblich den knochigsten Hintern in ganz Howell. Er schüttelte sich sandfarbene Strähnen aus den Augen. Sein Haar war nicht rot wie australischer Wüstensand, sondern so hell wie ein Sandstrand in Cornwall. Augen so blau wie das Meer, und das hatte seinen Vater wütend gemacht. „Meeresaugen. Meeresaugen. Woher hast du nur diese Meeresaugen?“ Dabei hatte er Sean immer angestarrt, als ob die Frage irgendeinen Sinn ergäbe.

Sean verzog den Mund zu einem verschmitzten Lächeln, so wie es den Frauen gefiel.

„Dein Schoß ist doch gut gepolstert. Das reicht mir als Kissen“, sagte er. Julie kicherte. Das mochten die Frauen, wenn er solche anzüglichen Witze machte. Mrs. Wyndham kam herein, um für ihre beiden Töchter Fairy Cakes zu kaufen. Ihr Gatte blieb am Steuer und schmollte ob dieser Geldverschwendung.

„Sie haben ja ganz rosige Bäckchen heute Morgen, Mrs. Wyndham. Haben Sie etwa schon Frühsport mit ihrem Mann getrieben?“, wurde mit einem weiteren Kichern quittiert. Das sagte er immer zu den verheirateten Damen – harmloses Geschäker, und alle hatten gleich bessere Laune.

Er zwinkerte den beiden Frauen zu, machte sie quasi zu Komplizinnen, selbst wenn sie gar nicht wussten, wobei.

An manchen Tagen fiel ihm das leicht, doch an anderen fühlte er sich so leer wie ein bodenloser Brunnen. Er war nach einem Ort benannt, den es nicht mehr gab, und es kam ihm so vor, als klaffte ein Loch in seinem Innern, als sei ein Teil von ihm gemeinsam mit dem Dorf verschwunden. Dem Heimatdorf seines Vaters, nicht dem seiner Mutter. Deren Zuhause stand noch. Wenn er wollte, könnte er jederzeit hinfahren. Sie hatte nie verstanden, warum das so wichtig war. „Es könnte ebenso gut weg sein“, hatte sie einmal gesagt. „Dort zieht mich doch nichts mehr hin.“

„Aber wenigstens hast du ein ‚dort‘. Wir haben ja nicht mal ein ‚dort‘“, hatte sein Vater geantwortet.

„Warum soll denn mein ‚dort‘ nicht auch für den Jungen ‚dort‘ sein?“, hatte sie gefragt. Auch wenn sie nicht wirklich eine Antwort erwartete.

Sie starb, als Sean dreiundzwanzig war. Da war sie gerade in Übersee, sah etwas von der Welt. Sean und sein Vater nickten dazu, es half ein bisschen bei der Trauer, dieses Wissen, dass sie es sich eigentlich selbst zuzuschreiben hatte. Der letzte der Skeltons, der das Meer überquerte, war Seans Großvater gewesen, den man als Waise nach Australien verschickt hatte. Das machte man damals so, elternlose Kinder nach Australien verschiffen. Man ließ sie hilflos über dieses fremde Meer treiben, damit sie sich hier ein neues Leben aufbauen konnten.

Sean hatte davon zwar keine wiederkehrenden Träume, aber dafür eine Art widerhallende Geschichte. Immer und immer wieder dieselbe Erzählung im Kopf. Er hatte sie oft von seinem Vater gehört, und der, so erzählte er, ebenso oft von seinem eigenen Vater.

Die Geschichte ging so: „Wir waren alle froh, England zu verlassen. Man hatte uns von Australien erzählt, und es klang wie ein Ort, wo wir gerne hinwollten. Trocken. Äußerst trocken. Man konnte hier ein halbes Jahr lang leben, ohne einen Regentropfen zu sehen.

Ich blieb unter Deck, solange man mich ließ. Die Wellen waren so riesig, dass ich dachte, sie müssten das ganze Boot umwerfen. Mir war klar, dass mich diese Wellen verschlucken würden. Das hatte ich mit eigenen Augen gesehen, wie Kinder vom Wasser verschluckt wurden und dann einfach verschwunden waren.

Irgendwo warten sie, diese Kinder. Zumindest ihre Knochen. Ganz hoch oben auf einem scharfkantigen Felsen. Ich denke oft an sie, wie hungrig sie gewesen sein müssen, bevor sie gestorben sind. Wie scharfkantig der Felsen.“

Seans Großvater hatte niemals Essen verkommen lassen, so erzählte Seans Vater. Er wusste noch, wie es sich anfühlte, hungrig zu sein. Er dachte an die scharfkantigen Felsenkinder. Er zog Seans Vater die Ohren lang, wenn der seinen Teller nicht leeraß.

Seans Vater war das dritte Kind in einer fünfköpfigen Familie und schaffte den High-School-Abschluss. Obwohl er den Namen eines toten Dorfes trug.

Kurz vor seinem Tod träumte Seans Großvater davon, nach Hause zu reisen, zurück an den Ort, den es längst nicht mehr gab.

Eingefallen lag er in seinem Bett, ganz grau im Gesicht. „Seine Geister bringt man immer mit sich, aber in einem neuen Land schert sich niemand mehr drum.“

Und seine letzten Worte? „Brust raus“, schnauzte er Seans Vater an. „Brust raus wie ein richtiger Mann. Du hängst hier herum wie so ein Klecks Porridge. Brust raus und geradegestanden.“

Letzte Worte. Die Mutter und Geschwister, allesamt tot.

Sean wischte die Sitzbänke ab, schaltete den Toaster aus und hängte das Sonntagsschild an die Tür: „Kehrt zurück zu mir, dann will ich zu euch zurückkehren! Maleachi 3:7“, dann lief er mit einer rotwangigen Julie Porter zur Kirche an der Ecke.

In der Hand trug er eine große Papiertüte mit den Restbeständen der letzten Woche – Kuchen, Brot, Würstchen im Teigmantel. Die verteilte er an die Aboriginal-Kinder bei der Kirche. Er lächelte, als er die Tüte überreichte, und bestand nicht auf dem Dankeschön wie so viele andere. Er wusste ja, dass sie dankbar waren.

„Du bist echt ein guter Mensch“, meinte Julie. „Dass du diesen Kindern Essen gibst …“

Sean antwortete: „Das ist doch nur noch Restzeug. Nichts, womit ich noch Geld verdienen könnte.“ Er legte keinen Wert auf den Ruhm. Verfolgte kein höheres Ziel, er fand es nur schlimm, Essen verkommen zu lassen.

Der Pfarrer in seinem Kopf spottete: „Na, hältst du dich jetzt für ’nen guten Menschen?“ Er konnte hören, wie die anderen Männer ausspuckten. Seine Geister spuckten und er konnte nur daran denken, wie dreckig jetzt der Fußboden aussehen musste.

Seine Übelkeit wurde immer stärker, während Father Bernard seine Palmsonntagspredigt hielt.

Als die Gemeinde langsam und respektvoll der Reihe nach die Kirche verließ, bemerkte Sean, dass die Aboriginal-Kinder in eine Wasserschlacht vertieft waren. Den weißen Kindern sah man die Sehnsucht an, doch sie waren in Sonntagskleidung herausgeputzt, gestärkter Baumwollstoff, feine Schuhe. Ihre Eltern hielten sie fest am Arm, wären aber wohl genauso gerne selbst durch das Wasser getollt.

Sean hielt einen großzügigen Sicherheitsabstand. „Verschwendung!“, rief er, um seine Furcht zu überspielen. Er wollte die Kinder eigentlich nicht verurteilen, aber es war unerträglich mitanzusehen, wie sie in Dürrezeiten einfach so Wasser verschütteten.

„Es ist doch so heiß heute, Sean!“, wandte Julie ein. „Und so wie das mieft, ist das eh nur Brunnenwasser.“

Sean kniff die Augen zu, als dicht neben ihm ein weiterer Eimer Wasser über den Boden spritzte.

„Du kannst Wasser wirklich nicht ausstehen, oder? Bist du etwa in der Wüste aufgewachsen?“

„Ich komme aus einem Fischerdorf. Also, meine Vorfahren jedenfalls.“

„Dann solltest du Wasser doch lieben! Nicht fürchten.“

„Das sollte man meinen. Aber wir waren echte Landratten. Den Fisch haben wir zwar gegessen, aber nie selbst gefangen. Es heißt, einer meiner Vorfahren wäre ganz schwarz gewesen, außer an den Händen, weil er nur die gewaschen hat – so sehr fürchtete er sich vor dem Wasser.“

Sean selbst roch stets nach Seife und Shampoo, manchmal aber auch nach Brot, wenn er gerade gebacken hatte. Nach Marmelade. Hin und wieder auch nach Lamingtons, Schokolade oder Kuchen. Beim Gottesdienst lenkte Seans süßer Kuchenduft manch einen Gläubigen vom Gebet ab, ließ ihn eher ans Frühstück denken.

„Kommst du Donnerstag in die Bibelstunde?“

„Aber sicher doch.“ Sean wusste, dass seine Geister niemals zulassen würden, dass er eine Gelegenheit zur religiösen Erbauung verpasste. Besonders der Pfarrer war verbittert – er war festen Glaubens gewesen, sein frommes Leben würde ihm einen Platz im Himmel sichern.

„Gehen wir zusammen?“

Sean hörte seine Geister auflachen. „Tu’s nicht, Seanie. Sonst lernt sie dich zu gut kennen und macht die Fliege. Und wenn sie deinen winzigen Stummelschwanz sieht, wird sie sich vor Lachen krümmen.“ Das war David Evans, der nicht einmal davor zurückschreckte, Sean im Bett zu beobachten.

„Alles klar, Julie. Lass uns doch einen schönen Abend daraus machen. Komm erstmal im Café vorbei, dann wärm ich dir eine Hähnchenpastete auf.“

Kaum war er allein, fauchten die Fischweiber ihn an. „Donnerstag? Hast du schon vergessen, was für ein Tag das ist? Der Todestag deines lieben, alten Vaters! Und du planst eine flotte Nummer mit dieser fetten Qualle! Dein Vater würde sich im Grabe umdrehen, wenn die Würmer sich nicht längst über ihn hergemacht hätten.“

Sean schabte sich ein paar Hautschuppen vom Ellenbogen und sprenkelte sie in einen Topf mit köchelnder Kartoffel-Blumenkohl-Suppe. Die würde sicher ein Verkaufsschlager werden. Alle aßen sonntags gerne Suppe. Doch seine Gerichte mit Stückchen von sich selbst zu garnieren, schien keine Wirkung zu haben. Sean hatte gehofft, die Geister würden ihn so verlassen, aber es funktionierte nicht. Ganz Skelton hing an ihm, alle längst tot, suchten sie ihn immer noch heim. Doch Sean versuchte es immer wieder.

„Am Todestag deines Vaters!“, zischte ein Fischweib. Sie ließ es sich nie entgehen, ihm Schuldgefühle einzureden.

Die Bibelstunde am Gründonnerstag duftete so lieblich wie eh und je, doch Sean war nicht ganz bei der Sache. Neben ihm saß Julie, und er war sich nicht sicher, ob die Verabredung eine gute Idee gewesen war, so wie die anderen Frauen gafften und tuschelten.

Julie begleitete ihn zurück zum Café. Er wohnte dahinter: drei Zimmer, sonnig, ordentlich. Er bat sie nicht herein, zögerte auf der Türschwelle, bis Julie fragte: „Ist alles okay?“

„Ich muss an diesem Tag immer an meinen Vater denken. Ich war genau hier, gerade zurück von der Bibelstunde. Und als ich das Tor aufschloss, kam mir ein schlimmer Gedanke. Warum stirbt er nicht einfach? Sturer, alter Mann, klammert sich ans Leben. Dann habe ich ihn gefunden, reglos in seinem Sessel.“

„Wie alt war er?“

„Fast hundert. Als ich geboren wurde, da war er schon siebzig. Stell dir das mal vor. Nach all den Jahren passt er einmal nicht auf …“

„Siebzig!“

„Bei seinem Vater war es genauso. Der war auch fast siebzig, als er Vater wurde. Meine Großmutter war gerade mal zweiundzwanzig. Es heißt, er hätte sie auf der Straße gefunden und gerettet. Aber Vater meinte immer, er hätte sie vielmehr zu einem Leben in Gefangenschaft verdammt. Mein Opa war ein trauriger Mann, immer schlecht gelaunt. Dad hat ihn wohl nur ein einziges Mal zufrieden gesehen und das war, als er von einer Leiter gefallen ist und für einen Augenblick tot war. Angeblich haben seine Mundwinkel gezuckt, als wollte er lächeln. Als er wieder zu sich kam, hat er Dad gesagt, er wäre in Skelton gewesen, dem Ort, den es nicht mehr gibt. Er sagte, das Dorf sei in Nebel gehüllt gewesen und die Kirchenglocke hätte geläutet. Sonst war da nichts, außer der Gischt und dem Geistergeheul der toten Kinder.“ Sean schenkte Julie und sich Tee ein. „In meiner Familie pflanzen wir uns spät fort.“

Julie lachte. Das schätzte er an ihr, sie geriet nicht so schnell in Verlegenheit wie die jungen Mädchen. Julie war schon einmal verheiratet gewesen, hatte aber keine Kinder. So ein Versager von einem Ehemann, hieß es ständig. Niemand sprach seinen Namen aus.

Julie gab Sean einen Kuss auf die Wange, vielleicht zwinkerte sie ihm dabei auch zu.

„Muss reichen“, kommentierte der junge David Evans. „Heut gibt’s nix davon.“

„Hat es das leichter gemacht? Dass dein Dad schon so alt war, meine ich?“

Seans Vater, der große John, der große, spaghettischlürfende, whiskyspuckende, schmerzbringende John, starb nicht den Tod, den er verdient hatte. Er starb nicht, während er in der Wüste von Wasser träumte, oder als blutrünstiger Kriegsheld. Er starb nicht mit leerem Magen unter Hungernden, nicht an nicht an verfaulenden Gliedmaßen oder beim Versuch, ein wertloses Leben zu retten, wie es dem einzigen überlebenden Sohn eines einzigen überlebenden Sohnes gebühren würde. Stattdessen starb er in seinem Sessel, an einem Stück Käse-Chutney-Sandwich, das ihm im Hals steckte, weil niemand da war, um ihm auf den Rücken zu schlagen.

Als Sean seinen Vater fand, war dieser bereits lila angelaufen und wurde in der Hitze der australischen Einöde ganz weich. Man musste schnell sein. Sean rief den Bestatter (Mr. Stafford, benannt nach einer Stadt, die allerdings noch stand) mit den kältesten Räumlichkeiten in Howell, eiskalt für all die Leichen.

„Streu Salz über ihn, ich komme so schnell ich kann“, sagte Mr. Stafford.

„Wir haben kein Salz“, entgegnete Sean.

Mr. Stafford lachte auf. „Ist doch nur ein bisschen Bestatterhumor, Sean. Um die Stimmung etwas aufzulockern.“

Im Hause Skelton gab es kein Salz. Sean konnte das Zeug nicht ausstehen, nachdem sein Vater ihn einmal dazu gezwungen hatte, eine ganze Tasse Salzwasser zu trinken. Allein bei dem Gedanken daran drehte sich ihm der Magen um. Allein bei dem Wort. Seine Mutter gab es schnell auf, wie so viele Dinge in ihrem Leben. Nachdem sie endlich ihren Strandausflug bekommen hatte, kämpfte sie nicht mehr.

Sean konnte sich noch gut an den Tag erinnern. Sie hätte eine Überraschung, meinte sie. Etwas ganz Besonderes für die Familie.

Die Überraschung war, dass sie über die Feiertage eine Unterkunft am Strand gebucht hatte. Ein grausamer Scherz. Sie stand da und lachte wie eine Irre, den Kopf in den Nacken geworfen. Das Gelächter klang Sean noch immer in den Ohren. Ließ seine Sicht verschwimmen. Andere Frauen lachten auch so, und dann sah er immer rot. Dann vergaß er sich selbst.

„Du kannst die Furcht überwinden. Du musst es nur versuchen, Sean. Nur weil dein Vater sagt, dass sie ein Teil von dir ist, heißt das nicht, dass du sie behalten musst.“

Doch der Salzgeruch des Wassers, das Rauschen der Wellen machten ihm zu schaffen. Seine Beine schwach. Erinnerten ihn an Skelton und die große, salzige Welle.

Sean hatte die Geschichte so oft hören müssen, die Geister erzählten sie gerne.

Es war einmal ein Junge wie du, so fing die Geschichte immer an, sein Vater war der tapferste Fischer in Skelton, einem Dorf an der Küste von Cornwall.

Weißt du, als die Männer des Dorfes eines Morgens aufs Meer fahren wollten, flehten ihre Frauen sie an, zu bleiben. Sie hatten die verhedderten Leinen gesehen, und jeder einzelne Brotlaib im Dorf war verbrannt, eins, zwei, drei, vier, in allen Häusern in der Scobie Street und in der Tristan Street, in jedem Haus ein schwarz verbrannter Laib Brot.

Dafür kann der Müller nichts, sagten sie, auch wenn er sein Mehl mit Staub streckte, den er vom Boden und den Bänken aufkehrte.

Die Frauen flehten ihre Männer an, die Kinder bettelten auf Knien, und jeder Mann, der weder Frau noch Bably hatte, war an jenem Tag froh darüber und lachte über die armen Familienväter.

Der Müller blieb zurück, wie auch der Postbote. Und der Lehrer. Der Krämer. Diese Männer schliefen lang, bis nach sechs Uhr, weißt du? Außer natürlich dem Müller, der erzählte allen davon, dass er noch vor Morgengrauen aufstand, auch wenn man ihn manchmal an die Steinmauer gelehnt schlafen sah, mit ganz zerknautschtem Gesicht.

Natürlich gingen die Fischer, tratschten dabei über Sex, auf ihre schamlose, anzügliche Weise, Anekdoten über Fischweiber, Reusen und fette Hummer.

Als der Sonnenaufgang den Himmel rosarot färbte, stachen sie in See, still, jeder wusste genau, was er zu tun hatte. Die Boote hatten keinen Kapitän, nur geborene Anführer. Evans ließ sich nichts sagen, genauso wenig wie seine drei Söhne, wohingegen es Wilson lieber war, nichts entscheiden zu müssen. Seine Frau legte ihm jeden Morgen die Kleidung heraus und entschied auch, jedenfalls behaupteten das die Männer, wann genau den ehelichen Pflichten nachgegangen wurde. Allerdings meinten sie nicht, er würde unter ihrer Fuchtel stehen, so war es auch wieder nicht.

Fünf lange Stunden warfen sie aus und holten ein, steuerten und ankerten. Um kurz nach elf sichteten sie einen dichten Sardinenschwarm und machten halt, um sie zu fangen. Wilson kochte Tee und sie aßen das verbrannte Brot ihrer Frauen, tunkten es in die Tassen, um es aufzuweichen. Sie warfen die Fische direkt in ein Fass mit kochendem Salzwasser und Jones fischte sie mit bloßen Händen heraus. Sie nannten ihn den eisernen Mann. Unzerstörbar. Mit den Sardinen schmeckte das Brot nicht mehr so übel.

Wilson blickte über die Reling. Ihm missfiel, wie die Fische schwammen.

„Sie schwimmen entgegen der Sonne”, sagte er, und genau so war es, der ganze Schwarm schwamm mit hoher Geschwindigkeit um sich selbst herum. „Am Anfang waren es nur ein paar, aber jetzt sind es alle, sie schwimmen immer im Kreis. Das gefällt mir nicht.”

Der Sturm kam plötzlich. Die Boote, sechs an der Zahl, waren über anderthalb Meilen verteilt, immer gerade so weit vom nächsten Boot entfernt, dass sie einander noch Signale senden konnten.

Sie machten die Luken dicht und sicherten den Fang. Sie banden sich am Mast und an der eisernen Reling fest und sangen ein Gebet.

Es war wie der Zorn Gottes.

Wellen, fünfmal so hoch wie die Boote, Blitze, die das Deck trafen, faustgroße Hagelkörner – die Männer waren machtlos.

Sie starben, jeder einzelne, Wilson, Jones, die Evans, alle. Sie sendeten Signale, während sie untergingen: Frauen und Kinder und unsere kleinen Bablies! Frauen und Kinder! Wir können sie nicht verhungern lassen! Und es war Evans der Jüngere, der sie hochsteigen ließ.

Am Ufer warteten die Frauen und Kinder zusammen mit den Männern, die an Land arbeiteten. Die Teekessel waren schon aufgesetzt, und unter einem Blechdach hingen Decken im Trockenen. Sie alle weinten, auch wenn die Kinder sich um die größten Hagelkörner stritten.

Dann konnten sie am Horizont die Boote ausmachen, sechs Umrisse, die immer wieder von Blitzen erleuchtet wurden.

„Sie kommen zurück!”, rief Wilsons Sohn und rannte zum Meeresrand.

„Bleib weg vom Wasser!”, kreischte seine Mutter, denn die Dorfbewohner hatten schon mit ansehen müssen, wie Kinder im Wasser vom Blitz getroffen wurden.

Die Schiffe schienen tatsächlich zurückzukommen, alle sechs, weit oben auf einer riesigen Welle.

„Ich mache mich lieber mal an die Arbeit”, sagte der Müller und zog seine Frau und seinen dreijährigen Sohn mit sich.

Die Dorfbewohner verfluchten ihn, als er sie verließ. „Du bleibst schön mit uns hier und betest, dass sie heil zurückkommen”, verlangte die Matriarchin der Evans-Familie. Doch der Sturm kam immer näher, und der Müller wollte nicht hineingeraten.

„Ihr solltet eure Familien in Sicherheit bringen”, sagte er.

„Wir bleiben hier und beten sie zu uns zurück”, widersprach der Pfarrer. Die anderen stimmten ihm zu, also blieben sie.

„Sie sind nicht mehr zu retten, seht ihr das denn nicht? Kein Einziger!”

Die Müllersfrau fasste ihn am Arm, als er das sagte. „Vielleicht sollten wir bleiben”, schlug sie vor.

„Warum, hast du etwa einen Mann dort draußen? Irgendjemand Bestimmten, auf den du wartest?”

„Meine Männer sind hier”, entgegnete sie und zog ihren Sohn fest an sich.

„Dann lass uns einen sicheren Ort suchen.” Er führte sie auf höhergelegenes Land.

Seine Frau sagte: „Ich dachte, wir gehen zur Mühle.”

„Wir gehen bergauf, Weib.” Das Dorf erstreckte sich ganz am Ufer entlang und die Mühle lag nur einen kurzen Fußmarsch entfernt.

Da ließ sie ein ohrenbetäubendes Tosen herumfahren.„O, großer Gott”, sagte der Müller, denn auf dem Meer türmte sich eine Welle auf, höher als das größte Schiff, zehn Mann hoch, und auf der Welle die Umrisse der Männer, die johlten und jubelten. „Sie werden das ganze Dorf ertränken!”Am Ufer rief ein Kind: „Die Männer kommen!”Nicht die Boote. Die Männer.

Als die Welle auf die Dorfbewohner zukam, rannten manche los. Die Männer sangen mit tiefen, gurgelnden Stimmen ein Seemannslied: „Oh over the sea we go and fish we bring back home”. Der Gesang eigenartig laut, das Tosen des Sturms zu leise.

Die Männer ritten die riesige Welle, bis sie das Ufer erreichten, nahmen ihre Frauen, ihre Kinder in den Arm, und das ganze Dorf ertrank.

Der Müller und seine Familie waren die einzigen Überlebenden. Sie konnten nicht zurückkehren. Die Erde, so versalzen, dass alles abstarb, tagaus, tagein tote Fische am Strand, und das Vieh wurde krank vom Gras.


Die Bewohner der umliegenden Dörfer plünderten alles, bis auf den letzten Stein. Auch der Müllerssohn steckte sich einen Stein in die Tasche.

Immer, wenn er sein verlorenes Dorf erwähnte, stellte man ihm die gleiche Frage: „Wie haben sie den Ort wieder aufgebaut?”

„Es gab kein ‚sie‘ mehr, nur noch den Müller mit seiner Frau und seinem Sohn. Und es war nicht seine Art, irgendetwas wieder aufzubauen. Auch wenn er sich wohl selbst zum Bürgermeister hätte ernennen können.”

„Also ist dein Dorf verschwunden?”

„Wie so viele andere. Tausende.” Er fragte sich, wen die Geister all dieser anderen Dörfer wohl heimsuchten.

Schon bevor Mr. Stafford ankam (und er war stets schnell zur Stelle, als wollte er der Konkurrenz zuvorkommen), hatte Sean begriffen, warum sein Vater immer so geplagt gewirkt hatte. Und wie sehr er für seinen Sohn gelitten hatte.

Sean saß auf einem Hocker zu den Füßen seines Vaters und ignorierte den Geruch. Der Leichnam sah verschwommen aus, auch wenn Sean die Augen zusammenkniff. Es schien, als würde eine Million kleiner Fliegen, vielleicht Fruchtfliegen, um ihn herumschwirren, doch das Schwirren kam nicht von Flügeln.

„Hallo Sean, alter Freund“, hörte er. Er sah sich um. Es klang nicht nach Mr. Stafford, dessen starker australischer Akzent Nägel hätte einschlagen können. Die Stimme klang Britisch. Nicht affektiert, aber Britisch. Es war auch nicht der übertriebene Akzent, mit dem die Kinder Seans Ausdrucksweise nachäfften.

„Wir sind da, mein Lieber.“ Noch eine Stimme, weiblich, Betonung auf ‚mein Lieber‘. Um Seans Vater herum tauchten Gesichter auf. Dutzende Gesichter, Männer, Frauen, Kinder. Schwebend kamen sie näher. Ein salziger Geruch, von dem Sean übel wurde.

Er sprang auf und rannte zur Tür, flink wie eh und je, sagten die Damen. Sie überholten ihn trotzdem und er lief in sie hinein. Es fühlte sich an, wie er sich die Wucht einer Welle vorstellte, kalt, nass und überwältigend. Dann waren sie verschwunden, doch er fühlte sich wie damals, als sein Vater ihm das Salzwasser eingeflößt hatte. Sein ganzer Bauch voll davon.

„Wir sind in dir!“, sagte eine Frauenstimme. Es würde ihm niemals gelingen, die Frauen auseinanderzuhalten. Für ihn waren sie nur die Fischweiber. „Wir wohnen jetzt hier“, sagten sie.

Alle Seelen des verlorenen Dorfs erfüllten ihn. Sie fluchten und geiferten. „Noch so ein schwächlicher Müller“, riefen sie.

Mr. Stafford erschien und machte sich an die Arbeit. „Du trinkst jetzt erstmal einen Brandy und legst dich hin. Du siehst furchtbar aus, Sean. Das nimmt dich ja wirklich mit.“

„Ich bin voller Geister.“

„So ist das eben, Kumpel. Erinnerung und Liebe.“

Sean ließ alles um sich herum geschehen.

„Schwach wie Pisse, dein Alter. Hatte keinen Anstand.“ Die Stimme des Pfarrers konnte Sean schnell wiedererkennen, den verbitterten, boshaften Klang.

Nachdem die Geister eingezogen waren, verstand Sean, warum sein Vater sich so ans Leben geklammert hatte: Er hatte seinen Sohn beschützen wollen. Und vom Kinderkriegen hatte er ihm abgeraten, damit niemand mehr die Geister erbte. Er war grausam, aber fürsorglich. Hätte Sean das gewusst, wäre er ein besserer Sohn gewesen.

Es war, als wäre sein Vater schon immer alt gewesen. Jedenfalls viel älter als die anderen Väter. Er meinte: „Bekomm keine Kinder, bis du ganz sicher bist. Warte ab. Ich brauche keine Enkelkinder. Kann die Bälger nicht ausstehen.“ Sean wusste, er selbst war ein Unfall gewesen. Zwei Flaschen Scotch nach einem Aussie-Football-Spiel, seine Mutter mit anderthalb Flaschen Stout intus, so stellten sie es dar.

Die Geister gaben selten Ruhe.

Als er beim Leichenschmaus seines Vaters Fleischpastete aß, meckerten sie: „Sowas gab es bei uns nicht, die ist ja fad wie ein Stapel Taschentücher! In Skelton waren die Pasteten voller Schweinsfüße und Pfaffenstücke.“ Sie brüllten vor Lachen. Der Pfarrer, ein dröger, hinkender Mann, hob stolz seine Whiskyhand, als hätte er seinen fehlenden Zeh als Pfaffenstück beigesteuert.

Glücklicherweise führte Sean bereits ein geregeltes Leben als die Geister von ihm Besitz ergriffen. Er hatte alles, was er sich wünschte: Sein Café in einer Stadt fern vom Wasser. Er war beliebt und recht angesehen. Den Tee ließ er sich aus England liefern, seine Kekse backte er selbst.

Er erfreute sich an kleinen Dingen, wenn die Geister es zuließen. Er war meist verständnisvoll, regte sich nie über die Kundschaft auf, selbst wenn sie den Tee lauwarm werden ließen oder die Leberwurstsandwiches nicht mochten. Schon als Kind war er geduldig gewesen, stundenlang mit seinem Vater herumgefahren, um Bibeln zu verkaufen. Er bekam dann Eis und Kartoffelchips, durfte auf dem Fahrersitz sitzen und so tun, als würde er steuern. Das waren gute Zeiten, es machte ihm nichts aus, dass er nie an den Strand ging wie die anderen australischen Kinder, dass er nie schwimmen lernte.

Seans Vater hatte immer abgelenkt gewirkt, und jetzt erwischte er sich selbst dabei, wenn die Geister sprachen.

Richtig ärgerlich wurde Sean nur, wenn er etwas ersteigern wollte und den Zuschlag nicht bekam. Er sammelte Relikte aus verlorenen Welten, verlorenen Familien. Die Taschenuhr des letzten Sprösslings einer alten Sippe. Einen Roman, den eine alte Frau von Hand geschrieben hatte. Oben auf der ersten Seite stand ‚Nr. 27‘. Sie hatte das Buch siebenundzwanzig Mal abgeschrieben, nie verkauft, nie fotokopiert. So stand es in Seans Regal, die Geschichte von Feen und Fenchelknollen, ein Lebenswerk. Solche Objekte zierten die Wände des Cafés, und manche Gäste kamen nur, um sie anzusehen. Andere waren nur auf Durchreise, fanden die Sammlung aber so rührend, dass sie Sean ihre eigenen Erinnerungsstücke ins Café brachten oder vererbten. Er besaß einen Flummi, der dem letzten Kind einer Familie gehört hatte. Dieser schreckliche Unfall, der rote Fleck noch immer auf dem Asphalt. Der Junge war mit seiner Großmutter ins Café gekommen, Sean hatte nie zwei müdere Menschen gesehen.

„Es hat gebrannt“, berichtete die Großmutter. „Sein Zuhause mit allem, was darin war. Seine Eltern. Meine Tochter.“

Sean kochte ihr heißen Tee gegen die Tränen.

„Alles ist zerstört. Nur den Flummi hatte er in der Schlafanzugtasche … Ein Nachbar hat den Jungen gerettet, er hat ihn gerade noch durch das Fenster zerren können.“

Und dann … so viel Leid für eine einzige Frau! Ihr Enkel rannte seinem Flummi hinterher auf die Straße und ein Lastzug tötete ihn auf der Stelle.

Die Fischweiber beweinten das grausame Schicksal. Die Großmutter verschwand fast vor Kummer. Sean bat die Präsidentin des Frauenvereins, sich um sie zu kümmern.

Später fand er den roten Flummi im Rinnstein und steckte ihn ein.

Seit die Geister ihn heimsuchten, hatte Sean noch mehr Angst vor dem Wasser. Die Hochwasser in North Queensland versetzten ihn in Panik. Er war froh, hier zu sein. Es gab genug Verkehr, um das Geschäft am Laufen zu halten, aber es regnete nie. Sean reiste nie nach Übersee, nur hin und wieder besuchte er die größeren Städte. Einmal war er in Adelaide gewesen, furchtbar. Es regnete die ganze Nacht und Sean bekam kein Auge zu. Wie der Regen aufs Dach prasselte, durch die Regenrinne rauschte, von der Traufe tropfte, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Es graute ihm vor den Träumen, die ihn erwarteten, von Hochwasser, Flutwellen, tiefen Seen. Vom Meer, das sich wie ein Monster aufbäumte, von Männern, die darauf angeritten kamen, um ihre Liebsten zu holen.

Sean wollte keine gewaltvollen Wasserträume mehr. Er war wegen eines Zeichenkurs angereist. Er wollte versuchen, die tanzenden Flecken vor seinen Augen einzufangen, ihnen ein Gesicht zu geben. Sie tanzten ihm förmlich auf der Nase herum, die Fischweiber, der Pfarrer, die kleinen Rotznasen. Stattdessen fing er etwas ein, das ganz tief in ihm verborgen lag. Im Zeichenkurs verurteilte ihn niemand, das gefiel ihm. Dort durfte er so sein, wie er war. Man bewunderte seine Albträume und sein Gespür für Leere.

Während er sich unter vielerlei Ratschlägen der Geister auf den üblichen Freitagsansturm vorbereitete, dachte Sean an seinen Großvater, der so jung Vollwaise geworden war. Auch er war heimgesucht worden. Sean konnte sich kaum vorstellen, wie erschreckend das für ein Kind gewesen sein musste, wenn es schon für ihn als Erwachsenen schlimm war.

Die Geister erzählten, dass Seans Vater sich nach dem Tod seines eigenen Vaters verändert hatte. Zuvor war er ein zufriedener, guter Mann gewesen, doch später wirkte er abgelenkt, mit wildem, rastlosen Blick. Er zog nach Howell, um zur Ruhe zu kommen.

Howell war ein trockener Ort, und das war gut.

Die Gäste stürzten sich auf Seans Freitagsangebot. Frische Scones mit Blutstropfen, frische Clotted Cream und Marmelade, die die Frauen im Ort gekocht hatten. Allen schenkte er ein Lächeln und sie sagten: „Irgendwann wirst du dieses Städtchen regieren.“

Sean dachte nicht viel darüber nach, auch wenn er nichts dagegen hätte, Bürgermeister zu werden. Er wusste, dass die Geister ihn zurückhielten. Alles, was er gewann, nahmen sie ihm wieder.

Jedes Mal, wenn er Scones backte, dachte er: Das wird die Geister vertreiben. Sie werden mich verlassen. Für jeden Teil von mir, den ich in einen Scone gebe, geht ein Geist fort. Irgendwann sind alle weg. Doch sie verließen ihn nie. Manchmal hatte er rote Striemen an den Armen und wunde Finger und er dachte daran, wie sein Vater sich oft selbst verletzt hatte, sich die Haut abzog, die Schienbeine mit Rasierklingen aufschnitt. Als Kind hatte Sean gedacht, das wäre normal.

Mittwochmorgens traf sich der Frauenverein, und Sean versorgte die Damen mit leckerem Tee. Er brühte ganze Teeblätter auf, feinste Importware.

„Wie ein britischer Royal“, neckte ihn eine der Damen. Es machte ihm nichts aus. Wenigstens musste er dann nicht den typischen Aussie-Burschen mimen.

Abends kamen die älteren Teenager, die sich zum Date im Café trafen. Was er da so aufschnappte! Das Gewirr ihrer Stimmen.

Wenn er beobachtete, mit welcher Selbstverständlichkeit sie sich heimisch fühlten, wurde er neidisch. Er hatte nur Leere.

Unter seinem Hut juckte es fürchterlich, aber nicht wegen der Hitze. Er war schon fast kahl, weil ein Geist ihm ständig die Haare ausriss. Oft riss er sie sich auch selbst aus, um den Juckreiz zu stoppen. Der Geist war die Schneiderin gewesen. Offenbar mochte sie das Gefühl von Fäden zwischen den Fingern.

Am Anzac-Gedenktag kam Julie Porter früh vorbei. Sean war bereits seit drei Uhr morgens wach, wie immer an diesem Tag. Er bereitete das traditionelle Gunfire Breakfast vor, das bis zum Frühgottesdienst bei Sonnenaufgang fertig sein musste. Nach der Messe beeilte er sich, zum Café zurückzukehren, wo ihm eine eifrige Schar von Damen dabei half, alles in den Pub zu schaffen, wo wiederum fleißige Kerlchen Rum ausschenkten und die Stimmung aufrechterhielten.

Julie machte Sean ein wenig Angst. Ihr Einfluss auf seine Zukunft. Er hatte bereits Freundinnen gehabt. Britischer Charme, Manieren … Aber alle mochten das Wasser. Stets lief es darauf hinaus. Sie wollten mit ihm ein Bad nehmen oder ein Inselressort besuchen. „Irgendetwas fehlt mir mit dir“, sagte eine Partnerin zu ihm. Doch das sagten Frauen ja immer.

Er ließ ein Backblech voller Muffins auskühlen und richtete einen für Julie her. Hübsche Serviette. Keine Fingernägel im Teig.

„Diese Dinger verkaufen sich wie von selbst“, meinte Julie. Sie öffnete ihren starken Kiefer, grub ihre gesunden Zähne in Seans Apfel-Zimt-Muffin. Er liebte sie dafür, dass sie so etwas sagte. Den Verkauf hatte er schon immer gehasst. Verrückt für ein Kind aus einer Bibelverkäuferfamilie, aber er bekam ein schlechtes Gewissen, wenn er Leuten etwas andrehte, das sie eigentlich nicht wollten. Sein Vater pflegte zu sagen: „Mach dir keine Gedanken um diese Trottel. Wenn sie dir den Zaster geben, wollen sie die Ware. Du kannst niemanden zu etwas zwingen, das er nicht tun will.“

Sean war da anderer Meinung. Er hatte seinen Vater dabei beobachtet, und er hatte von seinem Großvater gehört. Der Gruppenzwang regele das schon. Man solle den Leuten mit der Hölle Angst einjagen, oder sowas. Man fing mit einer kleinen Bibel an, hielt sie einfach nur in der Hand, und am Ende verkaufte man drei Stück, eine für Zuhause, eine fürs Büro und eine extra.

Wenn Sean Gäste mit britischem Akzent hatte, fragte er: „Waren Sie schonmal in Cornwall? Haben Sie jemals Glocken gehört, wo keine sind?“

„Sie sollten selbst einmal hin“, antwortete einer. „Wunderschöne Landschaft.“

Übers Meer.

Unmöglich.

Er war glücklich in seinem kleinen Café, wo der letzte Stein einer uralten Kirche als Blumentisch diente. Die letzten Samen einer vergessenen Rosensorte sprossen in einem Topf auf diesem Tisch. Das Steuerrad eines zerstörten Ozeandampfers an der Außenfassade. Solchen Dingen konnte er Aufmerksamkeit schenken, auf Bücher oder Filme konnte er sich nicht konzentrieren, da seine Geister unentwegt plapperten. „Bei uns gab es so einen Unsinn nicht, nur Arbeit von früh bis spät.“

„Und was habt ihr dann von spät bis früh getrieben?“ Sean wollte vorwitzig sein, aber sie hatten keinen Sinn für Humor.

„Wir beteten, aßen, beteten, schliefen, beteten und aßen. Hätten wir mal für einen solideren Wirtgebetet!“

Sean betete meistens um Gottes Hilfe. Einmal bettelte er um die Erlösung der Seelen, für die Vergebung ihrer Sünden. Das machte die Geister so wütend, dass sie Blutergüsse auf Seans Oberschenkeln, Pobacken und Rücken hinterließen. „Wie kannst du es wagen, uns Sünder zu nennen, du ungehobelter Kerl! Wir haben nicht gesündigt. Wir wollen nur unsere Heimat zurück! Ist das eine Sünde?“ Eine ganze Woche lang lagen sie ihm in den Ohren, sodass er kein Wort mehr verstehen konnte und eine schlimme Mittelohrentzündung vortäuschen musste.

Der Anzac-Gedenktag war für Sean einer der schlimmsten Tage im Jahr. Die Stadtbewohner kannten seine Vorgeschichte eigentlich nicht, aber die Geister schon. Sie schimpften ihn und seine Familie Feiglinge. Sie sagten, dass niemals ein Miller im Krieg gedient hätte, weil sie alle nutzlos gewesen seien. Er verdiene den Namen Skelton nicht, denn Skelton war ein gutes und stolzes Dorf.

Jedes Jahr sagten sie ihm das. Aber dieses Jahr, wo er über Julie nachdachte und sie bitten wollte, im Café auszuhelfen, bei ihm einzuziehen und ein Leben aufzubauen, waren sie noch gehässiger. Bei den Dingen, die sie zu ihm sagten, wurde ihm übel vor Scham.

Seine Familie war voller Drückeberger, das wusste er. Immer hatten seine Vorfahren Berufe gewählt, die sie vom Krieg fernhielten. Sein Großvater drückte sich vorm ersten und zweiten Weltkrieg. Sein Vater vor Vietnam.

Sean drückte sich um jeden Preis vor Konflikten. Er hasste Streit, allein aus Feigheit und Angst vor Kummer. Der Kunde hatte immer recht, sogar die aggressivste Sorte. Sean gab stets nach. Sogar als einmal ein scheußlicher Mann Essen auf den Boden warf, Sean mit den Fingern pikste und ihn eine Tunte nannte: nichts.

„Du solltest deinen Mann stehen, Sean“, sagte einer seiner Stammgäste. „Du solltest solche Leute nicht damit davonkommen lassen.“

Allein beim Gedanken zitterte Sean. Die Millers waren keine Kämpfer. Aber sie waren gute Männer oder versuchten es wenigstens.

Der Anzac-Gedenktag war jedes Mal hart. Ein Tag, an dem Mut gewürdigt wurde, und er besaß keinen. An diesem Tag fühlte er sich schwach. Julie neben ihm machte es noch schlimmer. Er würde ihr niemals sagen können, was für schlimme Dinge die Geister über ihn und sie gesagt hatten.

„Die Muschi dieser Uschi ist versalzen und voller Warzen“, sagte eines der Fischweiber und sie alle grölten, bis Sean die Ohren schmerzten.

„Die da wären besser“, sagte der Pfarrer. „Schon eher dein Typ. Gebärfreudige Becken haben die drei.“ Sean sah zu, wie drei junge Mädchen einen Blumenkranz niederlegten.

„Steck ihn rein, eins, zwei, drei, na los“, meinte David Evans. Das Schlimmste daran war, dass sich etwas in Sean regte, als er die drei Mädchen ansah. Er fühlte sich so schwach, dass er den Geistern zuhörte. Sie als Ausrede benutzte.

Sean hatte einmal von einem Hund gehört, der seine Flöhe folgendermaßen loswurde: Er hob mit den Zähnen einen Stock auf und ging in einen Teich. Er schwamm tiefer hinein und alle Flöhe krabbelten von seinen Beinen auf den Rücken. Noch tiefer, sodass nur noch der Kopf aus dem Wasser lugte. Dahin krabbelten sie. Der Hund schwamm noch tiefer, bis nur die Spitze seiner Schnauze über Wasser lag. Die Flöhe retteten sich auf den Stock, und in genau diesem Augenblick ließ der Hund den Stock los. Der Stock sank auf den Grund und riss all die lästigen Flöhe mit sich.

Sean überlegte, ob er so auch seine Geister loswerden könnte.

Er klebte sein „Bin mal kurz Kängurus boxen“-Schild an die Cafétür und fuhr in die Stadt, um eine Badehose zu kaufen, ein Kleidungsstück, das er nie zuvor besessen hatte. In der Schule hatte er immer mit einem Buch im Schatten gesessen, während seine Mitschüler im kühlen Pool planschten. Er sah zu, wie die anderen mit jedem Jahr besser schwammen, und wusste, dass er strampelnd untergehen würde, sobald er ins Wasser ginge.

 Die Badehose war eng und er fühlte sich nackt. Er hatte auch ein kleines Schlauchboot gekauft, das könnte ja sein Stock sein. Er mietete eine Hütte in einer Stadt, die an einem See lag.

Die Geister rupften Sean die Haare aus, einer von ihnen wand sich in seiner Badehose, noch einer in der Achsel, sie redeten auf ihn ein, bedrohten ihn.

Er ging weiter hinein, bis zu den Knien, aber die Geister zerrten an ihm. Er konnte spüren, wie sich eine Faust um sein Herz schloss, das immer schneller schlug.

Ihm war so übel wie noch nie. Ähnlich wie damals, als sein Vater ihm das Salz eingeflößt hatte. Ähnlich wie in dem Moment, als die Geister von ihm Besitz ergriffen hatten. Doch da hatte er nicht geglaubt, sterben zu müssen. Nun war er tiefer drin. Er hatte diesen See gewählt, weil es keine Strömung gab. Wegen seiner Vorhersehbarkeit. Es war Seans tapferster Augenblick und er hatte schreckliche Angst.

Er verlor den Boden unter den Füßen und hielt sich an seinem Schlauchboot fest, aber eine kleine Welle riss es ihm aus den Händen und trug es davon, er konnte nur hilflos zusehen.

Er versuchte zu stehen, aber dafür war es zu spät, seine Beine strampelten nutzlos im Wasser. Einen Augenblick lang genoss er die Atemlosigkeit. Das Gefühl von Schwärze und tiefem Nass. Dann kehrte die Furcht zurück und er hob den Kopf über Wasser.

Er ging unter. Seine Geister sanken mit ihm, kreischten ihm ins Ohr, schlugen ihm gegen die Brust. Seine Lungen füllten sich mit Wasser. Der Pfarrer sagte: „Wenn du ertrinken willst, dann bitte. Aber gefallen wird es dir nicht.“

Sean atmete immer mehr Wasser ein und versuchte, die Arme so zu bewegen, wie er es bei anderen Leuten gesehen hatte, um an die Oberfläche zu gelangen.

„Sag ich doch“, bemerkte der Pfarrer. Er kam nah an Seans Gesicht, hielt seine Wangen zwischen Daumen und Zeigefinger und presste seinen kalten, salzigen Mund auf Seans. Atmete aus. Wilson packte ihn an den Achseln und zerrte ihn aufwärts, bis sein Kopf die Wasseroberfläche durchbrach und er dankbar nach Luft schnappen konnte.

„Du denkst wohl, du kannst uns entkommen? Uns verlassen, so wie deine Familie es immer getan hat? Nicht mit uns. Vorher wirst du uns ein neues Zuhause geben. Gib uns ein Bably. Du Memme. Drückeberger. Waschlappen, ihr seid allesamt Waschlappen.“ Das war eine der Frauen, ein dickes Fischweib, das ihn stets mit großen, hervorstehenden Augen beim Geschlechtsakt beobachtete. Sie hielt ihn so, dass er nicht untergehen konnte, und er hob die Hand und winkte um Hilfe. Am Ufer standen Leute.

Sie retteten ihn.

Julie erwartete ihn zu Hause. In seiner Abwesenheit hatte sie das Café jeden Morgen geöffnet, um die Stammkunden zu versorgen und Bestellungen auszuliefern.

„Tausend Dank, Julie! Ich kann dir gar nicht genug danken.“ Er hatte sie vermisst.

„Du warst also schwimmen?“, fragte sie. „Hat es dir gefallen?“

„Einmal und nie wieder.“ Seine Antwort brachte sie beide zum Schmunzeln.

„Ich bin ja auch keine Badenixe. Seit meine Cousine ertrunken ist, mache ich einen großen Bogen um das Wasser.“

Julie knetete Teig, während sie sprach. Der Frauenverein hatte neunzig Brötchen für die alljährliche Spendengala bestellt.

Sean zog eine Schürze an und stellte sich neben Julie. Sie roch nach Talkumpuder. Er würde ihr hochwertigeren Puder besorgen, wenn sie unbedingt welchen benutzen musste. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und sie sah ihm ins Gesicht. Er setzte sein offenes, strahlendes Lächeln auf, das er sonst nur selten zeigte.

Die Geister schwiegen. Sie wollen ihre letzte Chance nicht vermasseln, dachte er. Sie wissen, dass in dieser Frau ihr neues Heim heranwachsen könnte.

„Julie, eines muss ich dir von vornherein sagen. Ich wollte nie Kinder haben. Ich möchte, dass du weißt, worauf du dich einlässt.“

Sie lachte. „Mein lieber Sean, ich bin fünfundvierzig Jahre alt. Meine fruchtbaren Zeiten sind vorbei.“

Sie küssten sich. Der Aufschrei der Geister war so laut, dass Sean schon befürchtete, Julie könnte sie hören. Wütend wirbelten sie durch den Raum.

Sean machte sich ein letztes Mal allein auf den Weg in die Stadt. Er sagte Julie, er wollte sich nach einem Hochzeitsgeschenk umsehen, was nicht gelogen war. Er suchte aber auch eine Kinderwunschklinik auf. Dort bat er das Personal, sein Sperma zu lagern, bis er bereit war, es auftauen zu lassen. Die Idee war ihm gekommen, als er das Beiblatt der Sonntagszeitung las. „Mühelos die Zukunft sichern“, lautete die Überschrift. Es ging um Samenspende, eine Möglichkeit, seine Gene weiterzugeben, ohne die Verantwortung einer Vaterschaft zu übernehmen.

Die Geister waren hellauf begeistert. „So werden sie irgendwo weit weg von dir geboren. Du musst dich nicht um sie scheren. Dann brauchst du kein schlechtes Gewissen zu haben.“

„Und jeder von uns kriegt einen eigenen Wirt! Nicht so ein Gedränge wie hier.“

„Wir könnten ein neues Dorf gründen! Genau hier. Sobald wir können, versammeln wir uns wieder hier.“

„Ihr könntet nach Truro, wenn ihr möchtet. Da haben viele Leute Vorfahren aus Cornwall“, sagte Sean in der Hoffnung, behilflich zu sein.

Sean Miller Skelton überlebte Julie Porter-Skelton um fast sechzig Jahre. Nach seinem achtzigsten Geburtstag gab er das Café auf, die morgendlichen Schmerzen waren zu schlimm. Die Geister wurden mit jedem Tag grausamer zu ihm. Sie alterten nicht wie er und quälten ihn stetig mit ihren Kommentaren, wie sie es immer getan hatten. Sie brachten ihn mit Geschichten von Verlust und Leid zum Weinen, und mehr denn je sehnte er sich nach Skelton.

„Es ist an der Zeit, Sean. Du musst diese Leute anrufen, damit sie deine kleinen Bablies auftauen. Du zeugst die Bablies, in denen wir leben werden. Die Bürger von Skelton werden nicht aussterben. Sean, du bist tapferer als alle Millers vor dir. Dass du so viele Bablies zeugst! So viele, dass Skelton in ihnen weiterlebt.“

Bei der Aufnahme auf die geriatrische Station hatte er gelogen, was sein Alter anging. Siebzig Jahre hatte er abgezogen, und trotzdem war er noch alt, unendlich alt. Die Station war die Hölle, überall roch und klang es nach Elend. Die Geister hassten es, eingesperrt zu sein, hassten es, im Bett zu liegen. „Du musst nur anrufen, Sean, dann wirst du endlich erlöst. Du könntest deinen Vater suchen, deiner Mutter vergeben. Du könntest Julie begegnen und ihr würdet nie wieder getrennt. Lass deine kleinen Bablies auftauen!“

Sean wusste, dass ihm kaum noch Kraft blieb und dass er bald die Kontrolle verlieren würde. Sie werden glücklich sein. Jeder Geist in seinem eigenen Wirt. Und sie können nach Howell oder nach Truro ziehen, zusammen sein, dachte er.

Also rief er in der Kinderwunschklinik an und gab sein Sperma frei.

Ein Jahr später, als er bereits ans Bett gefesselt war, als ihm nichts mehr blieb außer seinen Gedanken und den grausamen, zornigen Geistern, spürte Sean plötzlich, wie der erste Geist ihn verließ. „Ich bin dran!“, rief David Evans. Dann dessen Brüder und Mr. Evans, dann die Fischweiber und Wilson und alle anderen, und Sean blieb zurück in himmlischer, ja himmlischer Stille.