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Jugendfilme im Kompromisskino

Während ich mein Zimmer abdunkle und meinen Laptop hochfahre, denke ich an die unzähligen Stimmen, die in den letzten Jahren immer wieder betont haben, wie wichtig die Kinoerfahrung für das Filmerlebnis ist. Ich fühle mich manchmal ertappt von imaginären Kinoliebhabern, die den Kopf schütteln, wenn ich am helllichten Tag in der Bahn stehe und auf meinem Handy durch das kaputte Display Netflix-Serien gucke.
Aber das hier ist sowieso etwas anderes: ich habe 9,99€ ausgegeben und mich auf ein Festival gefreut, also bastel ich mir jetzt auch eins. Ich habe mir vorhin bei ALDI eine Cola gekauft, um die Gesamtsituation ein bisschen feierlicher zu gestalten. Mein Zimmer ist dunkel, mein Getränk kalt, ich lege mein Handy weg, und widme den Filmen meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Anfangs ist das gar nicht so einfach, denn der Bildschirm meines Laptops ist ziemlich klein, ich höre meinen Mitbewohner nebenan telefonieren und es ist ja auch niemand hier, der von mir erwartet, dass ich aus der Situation eine Feierlichkeit mache, überhaupt: es ist niemand hier. Mir wird schlagartig die Masse an Gesprächen bewusst, die es nie geben wird. Ich liebe es, mich in den wenigen Sekunden zwischen den Filmen zu der Person im Sitz neben mir zu drehen und mit meinen Augenbrauen „und?“ zu fragen, um sich kurz mimisch darüber austauschen zu können, wie man die letzten paar Minuten erlebt hat. Ich liebe die Gesprächsfetzen, die man in den Pausen aufschnappt, wenn sich Leute mit ihrer Begleitung darüber unterhalten, was sie wann wie warum während welchem Film gedacht und gefühlt haben. 

Ich logge mich ein und wähle die Kategorie „Youth Film Competition 12+“ aus. Mir werden sechs Filme angezeigt.
„Elf“ finde ich sehr schön, die Bilder, die Farben. Inhaltlich habe ich das Gefühl, schon sehr ähnliche Kurzfilme gesehen zu haben. Bei „Talvinen Järvi“ merke ich, dass ich das Programmheft in der Hand vermisse, in dem ich jetzt nachgeguckt hätte, aus welchem Land der Film ist, denn ich erkenne die Sprache nicht. Es ist finnisch, und der Film ist magisch. Ich mochte, wie er Naturwunder und Snapchat Streaks ganz natürlich zusammenführt. Es gibt verschiedenste Zeitlupen-, Zeitraffer-, Drohnen- und Unterwasseraufnahmen, die eine Welt zeigen, die mir ziemlich fremd ist.
„Our Largest“ ist kurz und toll und verwirrend, und ich bin mir sicher, dass es da eine Menge zu verstehen gibt, das an mir vorbeigegangen ist.
Bei „Grietas“ gefällt mir der Abspann besonders, aber „Esperança“ ist mein Favorit. Es handelt sich um die Geschichte des gleichnamigen Mädchens, das mit ihrer Mutter aus Angola nach Frankreich geflüchtet ist. Esperança erzählt von dieser Erfahrung, visuell untermauert von einer Animation, die aus sehr simplen Zeichnungen in wenigen Farben besteht, überwiegend schwarz; wie umangespitzter Buntstift auf Papier. Die Animation schafft es, Gegenstände, Orte und Menschen mit den Gefühlen der Erzählerin zu vermischen. Da ist ein Treppenhaus in der Schule (03:35), und als die Stimme erzählt, wie verloren sie sich dort gefühlt hat, klappen sich die Fenster zur Seite weg, die Treppe verformt sich wie ein Papierfächer, und bildet letztendlich eine Wand von Klokabinen, in denen sich Esperança versteckte. Ich könnte mir das stundenlang ansehen.

Der letzte Film der Kategorie, „Jamila“, war mit Abstand am Spannendsten und Emotionalsten.
Meine Empfehlungen aus der Kategorie sind definitiv die letzten beiden Filme, „Esperança“ und „Jamila.“ Mir fällt auf, dass die Hälfte der sechs Filme den Namen ihrer jeweiligen Protagonistin tragen.

Es fällt mir schwer, die Filme aus den Augen einer Zwölf- oder auch nur Sechszehnjährigen zu sehen, aber mir haben alle gefallen und ich halte den Grad an Intensität, an Politischem, an Ernst und Spiel für gelungen, genau so wie die Längen.
Hat sich jemand von euch Filme der Kategorie angesehen? Was denkt ihr dazu? Und was habt ihr außerhalb davon für Empfehlungen?
Nach dieser ersten Kategorie kann ich sagen, dass das Onlinefestival sich für mich überraschenderweise – und ich weiß gar nicht warum – immer noch ganz schön nach Festival anfühlt. Trotzdem freue ich mich darauf, morgen an einem „Treffen“ teilnehmen zu können. Ich habe das Bedürfnis, über das Festival zu reden, oder jemanden darüber reden zu hören, denn das ist das einzig wirklich komische: dass die sonst so kollektive Erfahrung jetzt darauf beschränkt ist, dass ich Leuten in der Küche im Schlafanzug von Filmen erzähle, die sie weder gesehen haben noch jemals sehen werden.

4 Antworten auf „Jugendfilme im Kompromisskino“

hey! danke für deine ersten empfehlungen und eindrücke! ich hab mir eben auch diese reihe angeschaut und mir ging es ähnlich. fand die letzten beiden auch super. "Grietas" hat mich auch ganz schön gekriegt, tatsächlich auch nochmal durch den Abspann, der ja die eigene biografische Erfahrung des Regisseurs offenbart. "Our Largest" hat mich doch mit einigen Fragezeichen zurückgelassen und ich hab die Story oder den Gedanken dahinter glaube ich immer noch nicht ganz verstanden... Meine große Empfehlung ist bisher die Reihe aus dem Jugendprogramm 10+! Da haben mich eigentlich alle Filme begeistert. Vorallem "Tetard" und "Baile"!

Oooh danke, das war eine sehr gute Empfehlung! Die Kategorie hat mir noch besser gefallen als 12+, obwohl ich erst dachte, 10+ ist vielleicht ein bisschen sehr jung – ich fand "Baile" und "Tetard" auch super, die anderen aber auch, besonders "Ahtapot".

Ihre Beschreibung von Talvinen Järvi hat mich neugierig gemacht - der Hinweis auf unterschiedlichen Kameraarten/Perspektiven. Und ich beschäftige mich schon eine Weile mit Eis und Perspektiven auf das Eis. der Film hat mich aber vor allen Dingen sehnsüchtig gemacht - nach Schnee... und Draußen sein. Und nach Sauna. Und nach Finnland, wo ich noch nie war. Mich hat die Musik etwas gestört, ich mag nicht so gezielt bespielt werden (aber da bin ich auch wirklich sehr speziell). Our Largest war aber auch ein toller Hinweis. Solche Filme, die einen mit Fragezeichen zurück lassen - also irritierende FIlmerlebnisse - würde ich gerne sammeln und mit ihnen allen besprechen. Also was das eigentlich ist, eine solche Filmerfahrung.

Ich stimme dir beim Erlebnis des Festivals total zu! Ich hatte erst die Sorge, dass ich in meinem Zimmer vor meinem Laptop der gesamten Veranstaltung gar nicht die angemessene Wichtigkeit gewähren kann - vor allem, weil das rein- und rausgehen aus der Festivalerfahrung so einfach ist. Aber nach ein paar Filmen ist mir aufgefallen, dass ich auch trotzdem das Gefühl hatte, tatsächlich an einem Festival teilzunehmen, und jedes Mal, wenn ich einen neuen Filmen anklicke, in eine gemeinsame Erfahrung einzutauchen.

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