Die Leiden des Rabbi Jochanan

Leiden sind zutiefst persönliche Gefühle. In den hebräischen Texten aus der rabbinischen Literatur werden verschiedene Ausprägungen von Leiden geschildert. Die eindrücklichste Form von Leiden ist dabei wohl der körperlich erlebte Schmerz. Dieses Leid kann jeden Menschen treffen, so auch Rabbi Jochanan, wie die folgende Erzählung überliefert (HldR zu 2,16; 2,34-35):

„Rabbi Jochanan wurde von Fieberschüben heimgesucht, an denen er 3 ½ Jahre lang litt. R. Chanina [ben Chama, der Lehrer Jochanans] ging, um ihn zu besuchen. Er fragte ihn: Was ist über dich gekommen? (= wie geht es dir?) R. Jochanan sagte: Etwas, das meine Kräfte übersteigt. [R. Chanina sagte:] Sag das nicht! Sondern sag: Gott ist getreu! (= er wird irgendwann helfen)

Als seine Schmerzen sehr groß waren, sagte [R. Jochanan]: Gott ist getreu! Als seine Schmerzen aber bis ins Unerträgliche angestiegen waren, besuchte ihn R. Chanina erneut, sagte ihm ein Wort (= etwas), woraufhin er Mut schöpfte.

Nach einigen Tagen nun erkrankte R. Chanina und R. Jochanan besuchte ihn. [R. Jochanan] fragte ihn: Was ist über dich gekommen? [R. Chanina] sagte: Wie schwer sind doch Züchtigungen [zu ertragen]. [R. Jochanan] sagte zu ihm: Wie groß aber ist die Belohnung [dafür]. [R. Chanina] erwiderte: Ich will aber weder diese [Leiden], noch den Lohn dafür. [R. Jochanan] sagte zu ihm: Warum sagst du dir nicht das, was du mir gesagt hast, woraufhin ich Mut schöpfte? [R. Chanina sagte:] Als ich ohne [Leiden] war, konnte ich anderen helfen. Jetzt aber, wo ich selbst betroffen bin, fehlt mir der Wille, mich von anderen aufmuntern zu lassen.

R. Jochanan sagte: Es steht aber geschrieben: Wer unter Lilien weidet (Hld 2,16) – das [bedeutet]: Gott wendet seine Zuchtrute nur bei solchen Menschen an, deren Herz so weich wie eine Lilie ist (= der so weichherzig ist, dass er Mitleid empfinden kann).

R. Eleasar sagte: Das gleicht einem Hausherrn, der zwei Kühe hatte. Die eine war kräftig, die andere war schwach. Welcher von beiden legte er das Joch auf? Doch wohl der kräftigen! Ebenso prüft Gott nicht die Frevler, weil sie [die Prüfung] nicht bestehen können, sondern den Gerechten.“

Aus dieser Geschichte lernen wir vier Dinge:                                                                                1) Niemand kann sich selbst Trost zusprechen, wenn er leidet.                                                                                                                                                  2) Nur ein anderer kann jemanden trösten, wenn er leidet.                                                      3) Es kann beim Leiden darum gehen, dass Gott jemanden prüften will. Aber selbst ein großer Gelehrter wie R. Chanina würde lieber auf eine solche Prüfung und die evtl. damit verbundene Belohnung verzichten.                                                                                                 4) Gott prüft nur denjenigen mit Leiden, der selbst Mitleid empfinden kann.

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