Zunz – Mein erster Unterricht: Teil II

Nur zu Polli ging ich zuweilen am Sabbath und bekam dort Obst, auch dann und wann einmal 1 Groschen. Im Sommer 1804 hatte ich mehrere Wochen das kalte Fieber: der alte Bückling verbot mir Fleisch, Fische, Eier, Käse, frisches Brot usw. Ich hätte sie mir ohnehin nicht gekocht und gesotten. Am 1. Abend Pessach gab es immer Pastinaken, an Purim Lungenmuß; die Kugel am Sabbath war oft so verbrannt, daß ich sie in die Tasche steckte und wegwarf. Jeden Morgen bekamen wir Tee mit Milch. Freitag mittag Kaffee.
Im Sommer suchten wir gewissen Kräuter auf dem Walle, woraus sich Kalman einen Tee bereitete. 1804 am ersten Abend Sukkoth war ein solcher Pöbellärm, die Hütte zu sehen, vor der Haustüre, daß Kalman hastig zu dem Polizeidirektor (oder was er sonst war) hinlief. Der Verdruß, die Erhitzung und das Laufen wirkten nachteilig auf sein Uebel (Bruch). Den folgenden Tag wurde er bettlägerig, noch an dem selben Chol Haomed starben er und R. Lik, der schon mehrere Wochen an der Lungensucht darniederlag und das Begräbnis fand, glaub ich, an Hoschanah Raba (26.September 1804) statt.

Den folgenden Winter besuchten wir die Talmudstunden bei Beer: im Dezember starb auch Philipp Samson. Nach Pessach des Jahres 1805 bekamen wir wieder einen Rabbi in unseren Bethhammidrasch: Michel aus Burg-Ebach (dessen Sohn Lion Privatdozent in Göttingen war oder ist: ich glaube getauft). Er kam mit einem Rätzel an und sah aus wie ein Ziegentreiber. Bei ihm, der träge war und lieber aus dem Fenster sah, wenn die Soldaten vor unserer Wohnung aufzogen und geprügelt wurden, hatten wir es sehr leicht. Er wohnte oben, während unten Witwe Kalman die Oekonomie hatte. Ich verwilderte in diesem Jahr 1805, bis ich buchstäblich keine Hose und keinen ganzen Strumpf hatte. Aber das Rechnen fing mich an anzuziehen.

Im Sommer zogen wir Freitag nachmittags nach einem Garten vor der Harztore: der Gärtner, ein Greis mit blonden Haaren und weißen Zähnen, wir aßen Stachelbeeren und brachten davon mit nach Hause. Zuweilen ging Ruben P. mit uns in den Fluß baden. In der Sefiro 1806 verließ uns der deutsche Michel: in demselben Sommer wurden auch Bauten in unserm Bethhammidrasch vorgenommen, während welcher Zeit wir wechselweise die Nacht aufblieben, zur Zeit nämlich, als die Türen ausgehoben waren. Damals lernten wir wieder bei Beer und eine kurze Zeit schliefen wir dort.
Damals begann ich ein hebräisch gereimtes Tagebuch zu schreiben und lernte aus dem großen Hemeling die ersten Ausdrücke der Algebra ¬ nachdem bereits eine Meile von mir fünf Jahre vorher Gauss seine Disquisitiones geschrieben!
Im Jahre 1805 war auch der erste Rabbi auf dem Zinnerhof, David Schwersenz, dessen Frau Egläh hieß, gestorben.

Die ersten Schritte zu einer Reform geschahen 1806. Ich glaube Ende 1806 oder Januar 1807 war Inspektor Ehrenberg da. Wir erhielten Kleidungsstücke. Als ich wieder einmal einen ganzen Strumpf anhatte und ganze Hosen, hatte ich ein Gefühl, wie wenn ein Seeverschlagener wieder an wirtbares Ufer kommt. Noch erinnere ich mich des Tages, als die ersten französischen Soldaten ankamen: die darauf folgende Zeit kam mir einer Zeit der Erlösung ähnlich vor. Um jene Tage war es, wo ich auch die schlechte Behandlung, der die Zöglinge auf dem Zimmerhofe bei dem Bären preisgegeben waren, etwas näher kennen lernte und besonders rührte mich der kranke Gabriel Engel aus Braunschweig, der auch April 1807 starb.

Den Tag vergesse ich nicht, wo es hieß, heute schlafen wir zum letzten Male auf dem Zimmerhofe: morgen geht es wieder nach der alten restaurierten Wohnung und die alte Bären-Herrschaft geht zu Ende. Am Dienstag kam der Herr Inspektor, den Tag darauf dessen selige Mutter ganz erschöpft vom Fahren (1. April 1807). Wir sind buchstäblich aus einer mittelalterlichen Zeit in eine neue an einem Tage übergegangen, zugleich mit dem Heraustreten aus der jüdischen Helotie in bürgerliche Freiheit.
Man denke sich lebhaft, was ich alles bis dahin entbehrt hatte: Eltern, Liebe, Unterweisung, Bildungsmittel. Nur im Rechnen und in hebräischer Grammatik war ich weiter als alle; letztere hatte ich schon als Kind bei meinem seligen Vater begonnen. Aber von der Welt und was sie füllt, von all den Lehrfächern, die heutige Knaben im 13. Jahre schon in drei bis vier Klassen durchgemacht haben, von Menschen und gesellschaftlichen Leben wußte ich nichts. Enger fühlte ich mich hingezogen zu diesem und jenem Mitschüler, z:B. zu Isaac Berlin (jetzt in Hamburg, Herausgeber des Machsor, das in Hannover erschienen, Schwager meines gelehrten Freundes H.J. Michael und noch mein Duzbruder), Jost Heinemann aus Ballenstedt, der im Mai 1805 zu uns kam (gestorben A. 1813 März in Halberstadt). Die mit 1806 eingetretene Verwandlung und die Vorbereitung dazu wird deutlicher unser teurer Inspektor selber schildern können. Die erste Notiz der Reform des Instituts ist in Sulamith Jahrgang I Bd. I S. 491, der Bericht ist von der Einweihung ib. Bd. II S. 49-61.

Jeden Mittag wurden einige Paragraphen aus dem Schulchan Aruch Orach Chajim gelernt; zwischen Pessach und Schowuaus betete man abends Maarif. Vorher wurde Mischna gelernt; im Winter ist am Sabbath bei Tisch Smiraus gesungen worden; Freitag nachmittag oder abends präparierten wir uns auf Peschutim (Bibelerklärungen) aus kleinen Büchern, die am Sabbath mittag auswendig als Uebung des Scharfsinns hergesagt werden mußten. Nur am Nachmittag des Sabbath hatten wir Ruhe. Außer Hemelings kleinem Rechenbuche hatte ich bis Ende 1805 kein deutsches Buch gelesen; das erste war: Philadelphias Kunststücke. In demselben Jahr in der Selichot-Woche las ich Tausend und Eine Nacht in jüdischen Lettern. Die erste Einsegnung, die Inspektor Ehrenberg verrichtete war die meinige. Sabbath 22. August 1807.“

An die Erinnerungen von Leopold Zunz schließen sich im Jahrbuch für Jüdische Geschichte und Literatur Band 30, Berlin 1937, S. 131-140 folgende Anmerkungen von Ludwig Geiger an:

Die Bedeutungdes soeben mitgeteilten Schriftstückes ist gar nicht hoch genug zu bewerten; es ist ein Kulturbild allerersten Ranges. Es schildert in schlichten und doch ungemein bewegten Worten die geistige und materielle Not, in der ein jüdischer Knabe noch am Anfang des 19. Jahrhunderts verkümmerte und stellt die Befreiung dar, wie sich diese bei Zunz durch den wackeren Ehrenberg vollzog. Man muß sich vorstellen, daß der Dreizehnjährige kaum ein deutsches Buch gelesen hatte, und daß er in einem Elend lebte, von dem die kühnste Phantasie sich kaum einen Begriff machen konnte.

Geschrieben ist die nicht zur Veröffentlichung, sondern zur Information für Ph. Ehrenberg bestimmte Darstellung wohl im Jahre 1843; nach einer Notiz von Prof. Richard Ehrenberg wurde sie am 30. Mai an Ph. Ehrenberg gesandt. Daß sie aus den ersten vierziger Jahren stammen muß, geht daraus hervor, daß bei der Abfassung des Schriftstückes der alte Ehrenberg noch lebte (der freilich erst 1853 starb) ebenso wie H.I. Michael. Der letztere ist am 10. Juni 1846 gestorben.

Die Darstellung soll trotz ihrer hohen Bedeutsamkeit nicht mit einem langen Kommentare beschwert werden. Die meisten der erwähnten Persönlichkeiten, außer den beiden Letztgenannten, sind weniger bekannt. Unter den Lehrern, die Zunz anführt, weiß man nichts von Polli, Lik, Michel, D. Schwersenz. Ein paar Bemerkungen über zwei andere hat Zunz in seiner Biographie S.M. Ehrenbergs, Braunschweig 1854, gegeben. Ueber der einen sagte er S. 9: „In der 2. Klasse der Samsonschen Anstalt unterrichtete der Talmudlehrer Kalman Jacob aus Ellrich, ein sehr redlicher Mann, aber an Geist und Körper schwach; bei einem strengen, fast abschreckenden Aeußern von Gemüt weich und gegen seine Schüler wohlwollend.“ Der zweite, Beer, ist vielleicht zu identifizieren mit dem Bachur Beer, der im Jahr 1780 ein Cheder errichtete, und der von Zunz als „launenhafter junger Mann von 20 Jahren“ charakterisiert wird (Biographie S.6). Jedenfalls ist unter unserem Beer der Talmudlehrer Beer (Blumenthal) zu verstehen, der im Jahre 1808 die Trauung S.M. Ehrenbergs im Ph. Samsonschen Wohnhause am Zimmerhof vollzog (Biographie S. 26).

Der einzige christliche Lehrer Zunzens, der von ihm genannt wird, ist sicher Gottlieb Bertrand, gest. 1811, der im Braunschweigischen geboren, Privatlehrer, Kaufmann, Schauspieler und später Uhrmacher war. Er hat von 1799 an (vergl. Goedeke, Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung, Band 6, S. 404) viele Romane, Schauspiele, Abenteuer-, Wunder- und Banditengeschichten geschrieben; es ist merkwürdig genug, vielleicht aber segensreich, daß Zunz keine dieser Schauergeschichten in die Hand bekommen hat. Von den Mitschülern sind die meißten: M. Gumpel, Moses, Salomon Berlin, Hirsch aus Hamburg, Jacob Frensdorf, Gebriel Engel völlig unbekannt. Frensdorf und Hirsch könnten aus den Familien in Halberstadt und Hannover stammen, deren Mitglieder sich später durch Geschäftstüchtigkeit und Gelehrsamkeit einen hochachtbaren Namen erworben haben, der Bruder des genannten Salomon Berlin, David Berlin, der sich später als Schriftsteller hervortat, gehört zu Zunz Hamburger Bekannten.

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