Zunz: mein erster Unterricht in Wolfenbüttel

Die guten Wünsche für eine gute Schulzeit, die ich im vorhergehenden Artikel wiedergegeben habe, gingen und gehen nicht immer in Erfüllung. Ganz im Gegenteil: Viele Kinder erleben ihre Schulzeit als quälend, als eine Zeit, die sie nicht in guter Erinnerung behalten werden. So auch Leopold Zunz, einer der großen Gelehrten zur Erforschung des Judentums. Er beschrieb seinen ersten Schultag und bewahrte dieses Schriftstück bis zu seinem Tode. Es wurde posthum im Jahrbuch für Jüdische Geschichte und Literatur Band 30, Berlin 1937, S. 131-140 veröffentlicht:

Im Jahre 1803, Sonntag mittag, den 5. Juni, kam ich mit meinem Oheim und begleitet von einem Soldaten vom Thore an – vor das Lokal des Bethhammidrasch [der jüdischen Schule] auf dem Zimmerhofe an. Der Soldat verließ uns, als Herr Ruben (Polli) uns in Empfang nahm (Polli war meiner Großmutter leiblicher Vetter, also meines Oheims Gliedgeschwisterkind) und in der Wohnung des Ph. Samson gegenüber brachte. Dort bekam ich etwas zu essen, es war brauner Kohl. Herr Samson hielt über mich revue, und gegen zwei Uhr marschierten wir nach der Harzstraße vor das alte Bethhammidrasch. Herr Kalman (geb. 1733 glaub ich)  stand vor der Türe, eine graue Mütze über der weißen usw. Vom folgenden Tage an ging nun das Talmudlernen los; da ich noch nicht 9 Jahre alt war, so blieb ich mit dem „Leinen“ verschont. Auch nachmittags waren wir bis 5, im Winter bis gegen 4 beschäftigt. Nur Freitags vormittag war dem Chumesch [den 5 Büchern Mose] gewidmet.

Herr Kalman hatte Mendelssohns Bibelübersetzung vor sich: außerdem gab Herr Benlevy aus Sandersleben (jetzt in Hildesheim) zwei Stunden jüdisches Schreiben (bis April 1804; später Polli); G. Bertrand (ein Romanschriftsteller, gestorben anno 1811) vier oder fünf Stunden wöchentlich deutsch Schreiben, Lesen, Rechnen. Der andere oder höhere Rabbi, der eine Treppe höher wohnte, war R. Lik aus Burg-Ebrach (bei Bamberg), der in Polen studiert, sich daher polnisch trug, ein sanfter Mann, aber mit einem Satan namens Mirjam verheiratet. Er war ein Kabbalist, blieb länger als alle übrigen in der Synagoge und saß vormittags bei dem Talmud-Unterricht in Tallis und Tefillin. […]

Es gab keine Schulgesetze, kein Protokoll, gewissermaßen keine Pädagogik. Freitag nachmittag lasen wir die Bohnen und Erbens aus; in unseren Spielen und Raufereien waren wir uns selbst überlassen. Nur daß der Rabbi zuweilen mit uns nach Hartmanns  Garten ging. Lektüre und dergleichen gab es nicht, es kümmerte sich auch niemand um uns; wir waren die verpflichteten Schulgänger, Leichenbegleiter und Mazze-Gehülfen und bekamen drei bis vier mal jährlich jeder einen halben Thaler an Jahrzeiten aus der Samsonschen Freischule. Diese steckte Herr Samson jedem in die Hand, wenn er aus der Schule i. e. Synagoge kam. Alsdann pflegte ihn auch derjenige von uns anzupacken, der ein Hemd, eine Hose und dergleichen haben wollte. Ich trug kurze lederne Hosen und Schuhe mit Schnallen.

Außer Bertrand – in dessen Stunden er allein entblößten Kopfes saß – und einer Frau, die mich kämmte, kannte ich keinen Christen. Die erwachsenen Bachurim übten nicht selten eine tyrannische Gewalt über die kleineren aus. Zwei Mal rettete mich im Winter 1803/4 die Vorsehung von Stockschlägen: einmal schlug der Rabbi mit dem Stock die Lampe und das Öl fiel auf den Traktat Gittin [Inhalt: Familienrecht; Scheidung]: das andere Mal trat in demselben Moment unser lieber nachmaliger Inspektor S.M. Ehrenberg in das Zimmer. Noch vor seinen Reformen 1806/7 hatte er mit dieser Erscheinung einen günstigen Grund in meinem Herzen gelegt. Dennoch war Kalman von Herzen gut, ein aufrichtiges Gemüt, war auch im Sommer 1804 bei weitem milder, brachte uns öfter Kirschen in die Lernstube. Auch die Frau war nicht schlimm, unter den Rebezinnen wohl die beste. In den Selichottagen standen wir um 4 Uhr auf, an Erev Rosch haschono und Erev Jom Hakippurim schon um 3 Uhr nachts.

Mein ganzes Eigentum jener Zeit bestand in einem alten Mantelsack nebst wenigen Kleidungsstücken: ein kleines Sefirat omer (Tabelle für das Omerzählen) habe ich bald hernach beim Ausräumen der Taschen von Chomez mit in die Oker geworfen. – Im Winter wurden die Lernstuben nicht geheizt, die Schlafzimmer mit dem Gipsboden waren eiskalt: dann gab es für uns und Kalman nur ein einziges Zimmer, in dem gewohnt, gelernt, gegessen wurde. Daher verbrachten wir Stunden lang im Bette zu.

Fortsetzung folgt ….

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