Der erste Schulgang

Am ersten Tag nach den Sommerferien, am ersten Schultag des neuen Schuljahres, möchte ich eine Beschreibung eines ersten Schulgangs aus dem Sittenbuch „Kab Hajaschar“ von 1705, das Hirsch Kaidenower verfasst hat, zitieren. Hirsch Kaidenower stammte aus Wilna; er starb 1712 in Frankfurt am Main:

Die Lehrer sollen sich bewusst sein, dass die Gottheit bei ihnen wohne, und sie sollen deshalb ihr Werk gewissenhaft, ohne Trug, ausüben, da es ein göttliches Werk ist. Sie sollen darauf sehen, dass die Stube (Cheder), in der die Kinder lernen, sauber und rein von allem Schmutz sei. Ich habe von meinem Lehrer, dem Gaon R. Josef, Sohn des Gaon R. Jüdel, seligen Angedenkens, gehört:

Wenn die Zeit gekommen ist, das Kind in die Schule zu geben, damit es bei dem Lehrer lerne, dann soll der Vater früh am Morgen das Kind selbst in das Haus des Lehrers bringen, mag er ein Greis, ein bedeutender Mann, ein Vorsteher oder Rabbiner sein. Er soll sich dessen nicht schämen, dass er zum ersten Male seinen Sohn selbst in die Schule führt, sondern Gott dafür danken, dass er so glücklich ist, seinen Sohn unter die Fittiche der Gottheit zu bringen.

Vater und Mutter sind verpflichtet, das Kind auf dem Weg in die Schule zuzudecken, damit es nichts Unreines wahrnehme. Im Hause des Lehrers angekommen, setzt der Vater das Kind dem Lehrer auf den Schoß. Dann bringt man eine Tafel, auf der das Alef-Bet geschrieben steht. Dies liest der Lehrer zuerst in richtiger, dann in umgekehrter Reihenfolge dem Kind vor, und das Kind spricht jeden Buchstaben nach. Dasselbe geschieht mit dem Vers Deuteronomium 33,4 und dem ersten Vers von Levitikus. Das Kind spricht jedes Wort nach.

Darauf bestreicht man die Tafel mit Honig, und das Kind leckt den Honig von den Buchstaben. Dann nimmt der Vater das Kind und bringt es wieder heim, zugedeckt, damit es nichts Unrechtes sehe.

Es ist angemessen, dass die Eltern an dem Tage fasten und zu Gott beten, dass das Kind in Tora, Gottesfurcht und guten Taten zu langem Leben gedeihe. Am Abend sollen sie den Armen ein Gastmahl ausrichten und nach ihrem Vermögen Spenden austeilen. (nach: Julius Höxter, Quellentexte zur jüdischen Geschichte und Literatur, Marixverlag 2009, Seite 430)

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