„Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten“ von Friedrich Torberg las ich vor Jahren in Wien – auf Empfehlung von Mascha Hoff, die Torberg noch persönlich gekannt hatte. Mascha Hoff, die große, sprachenbegabte und vor allem immer elegante Kollegin, die neben vielem anderen auch ein Medizinstudium absolviert hatte, und die sich (trotz ihrer Klaustrophobie und ihres erklärten Unwillens, Aufzüge zu benutzen) umgehend in ein Flugzeug gesetzt hatte, um mich zu besuchen, als ich ein Jahr in den USA lebte und in dieser Zeit bei mir der Verdacht auf Endometriose bestand, die mit einer radikalen OP behandelt werden sollte. Dass diese OP nie durchgeführt wurde, verdanke ich Mascha Hoff. Aber nicht nur dafür bin ich ihr dankbar. Auch für die Geschichten der Tante Jolesch, von denen ich aus dem ersten Kapitel hier zitieren möchte:
„Die Tante Jolesch persönlich
Was nun die Tante Jolesch selbst betrifft, so verdanke ich die Kenntnis ihrer Existenz – und vieler der von ihr überlieferten Aussprüche – meiner Freundschaft mit ihrem Neffen Franz, dem lieben, allseits verhätschelten Sprößling einer ursprünglich aus Ungarn stammenden Industriellenfamilie, die seit langem in einer der deutschen Sprachinseln Mährens ansässig und zu beträchtlichem Wohlstand gelangt war. Franz, bildhübsch und mit einer starken Begabung zum Nichtstun ausgestattet (das er nur dem Bridgespiel und der Jagd zuliebe aufgab), muss um mindestens zwölf Jahre älter gewesen sein als ich, denn er hatte bereits am Ersten Weltkrieg teilgenommen und wurde von seinen gleichaltrigen Freunden auch späterhin noch scherzhaft als „Seiner Majestät schönster Leutnant“ bezeichnet. … Die eingerückten Deutschen hatten ihn 1939 als Juden eingesperrt, die befreiten Tschechen hatten ihn 1945 als Deutschen ausgewiesen. Man könnte sagen, dass sich auf seinem Rücken die übergangslose Umwandlung des Davidssterns in ein Hakenkreuz vollzog. Er verbrachte dann noch einige Zeit in Wien und übersiedelte schließlich nach Chile, wo er bald darauf an den Folgen seiner KZ-Haft gestorben ist. Die Tante Jolesch hat das alles nicht mehr erlebt.
Franz war ihr Lieblingsneffe, und es fügt sich gut, dass einer ihrer markantesten Aussprüche mit ihm zusammenhängt – mit ihm und mit zwei unter Juden tief verwurzelten Gewohnheiten. Die eine besteht in der Anrufung des göttlichen Wohlwollens für einen demnächst auszuführenden Plan, etwa für eine Reise, die man „so Gott will“ morgen antreten und von der man nächste Woche „mit Gottes Hilfe“ zurückkehren wird, außer es käme „Gott behüte“ etwas dazwischen, vielleicht gar ein Unglück und „Gott soll einen davor schützen“, dass dies geschehe. Nicht minder tief sitzt, wenngleich ohne religiöse Verankerung, das jüdische Bedürfnis, einem schon geschehenen Mißgeschick hinterher eine gute Seite abzugewinnen. Die hier zur Anwendung gelangende Floskel lautet: „Noch ein Glück, dass …“ und kann sich beispielweise auf eine plötzliche Erkrankung beziehen, die nur dank rascher ärztlicher Hilfe zu keiner Katastrophe geführt hat: „Noch ein Glück, dass der Arzt sofort gekommen ist“; oder es kann „noch ein Gück“ sein, dass bei dieser Gelegenheit ein anderer gefährlicher Krankheitskeim entdeckt und entschärft wurde.
Nun hatte Neffe Franz, als er einmal von einer Autoreise heimkehrte, unterwegs einen Unfall erlitten, bei dem er zwar mit dem Schrecken und gelinden Blechschäden davongekommen war, der aber dennoch am Familientisch ausgiebigen Gesprächsstoff abgab, teils weil sowohl Autobesitz wie Autounfälle damals erst im Anfangsstadium standen, also Seltenheitswert besaßen, teils weil man noch nachträglich um Franzens heile Knochen bangte. Immer wieder wollte man hören, wie er die drohende Gefahr – sein Wagen war auf einer regennassen Brücke ins Schleudern geraten – von sich abgewendet hatte, immer wieder hob Franz zu erzählen an, schmückte die Erzählung mit neuen Details und erging sich in neuen Analysen.
„Noch ein Glück“, schloss er einen seiner Berichte ab, „dass ich mit dem Wagen nicht auf die Gegenfahrbahn gerutscht bin, sondern ans Brückengeländer.“
An dieser Stelle mischte sich die Tante Jolesch erstmals ins Gespräch. Sie hatte bis dahin nur stumm und eher desinteressiert zugehört (denn ihrem Franz war nichts geschehen und das war die Hauptsache). Jetzt erhob sie mahnend den Finger und sagte mit großem Nachdruck: „Gott soll einen hüten vor allem, was noch ein Glück ist.“
Sie hat in ihrem Leben viel Zitierens- und Beherzigenswertes gesagt, die Tante Jolesch, aber nie wieder etwas so Tiefgründiges. … (München, 1975, S. 13-14)
Ein kleiner Nachtrag noch, der diesem Andenken [an Tante Jolesch] keinen Abbruch tun wird; die Tante Jolesch war nicht schön. Zwar drückten sich Güte, Wärme und Klugheit in ihrem Gesicht zu deutlich aus, als dass sie hässlich gewirkt hätte, aber schön war sie nicht. Tanten ihrer Art waren überhaupt nicht schön. Ein Onkel meines Freundes Robert Pick hatte etwas so Hässliches zur Frau genommen, dass sein Neffe ihn eines Tages geradeheraus fragte: „Onkel, warum hast du die Tante Mathilde eigentlich geheiratet“? Der Onkel dachte eine Weile nach, dann zuckte er die Achseln: „Sie war da„, sagte er entschuldigend.
Von solch exzessiver Hässlichkeit konnte bei der Tante Jolesch nun freilich nicht die Rede sein, und sie ihrerseits hat nach „schön“ oder „hässlich“ erst gar nicht gefragt, für sie fiel das unter den gleichen Begriff von „Narrischkeiten“ wie die Frage nach ihrer Lieblingsspeise [„Also stell dir einmal vor, Tante, du sitzt im Gasthaus und weißt, dass du nur noch eine halbe Stunde zu leben hast. Was bestellst du dir?“ „Etwas Fertiges“, sagte die Tante Jolesch.“] Sie war davon durchdrungen, dass man derlei Äußerlichkeiten nicht wichtig zu nehmen hatte, und wer das dennoch tat, setzte sich ihrem Tadel, wo nicht gar ihrer Verachtung aus. Als einer ihrer Neffen auf Freiersfüßen ging und zum Lob seiner Auserwählten nichts weiter vorzubringen hatte als deren Schönheit, bedachte ihn die Tante Jolesch mit einer galligen Zurechtweisung: „schön ist sie“ No und? Schönheit kann man mit einer Hand zudecken!“
Nein, sie hielt nicht viel von Schönheit, bei Frauen nicht und schon gar nicht bei Männern. Und so schließe ich denn dieses Kapitel mit einem Ausspruch, der die Tante Jolesch nicht nur in sprachlicher Hinsicht auf dem Höhepunkt ihrer Formulierungskraft zeigt: „Was ein Mann schöner is wie ein Aff, is ein Luxus.“
Damit kommen wir zu einem wichtigen sprachtheoretischen Exkurs [über die vielfältige Bedeutung des Wörtchens „was“ ….]“ (S. 19-20)