Mann betrügt Frau

In § 263 des Strafgesetzbuches wird Betrug folgendermaßen definiert:

„(1) Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, daß er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“

Auch die Mischna, die das jüdische Recht um das Jahr 200 unserer Zeitrechnung dokumentiert, muss sich mit Betrug befassen. Ich greife hier einen – wie ich meine – recht spektakulären Fall heraus. Er findet sich in der dritten Ordnung der Mischna, Naschim, der Ordnung, die wesentlich das Familienrecht behandelt. Dies geschieht nicht in Form von Paragraphen, oder nach einer Systematik, die durch ein Inhaltsverzeichnis erschließbar wäre, sondern geordnet nach logischen und formalen Prinzipien. In Traktat Jebamot 10,1 wird folgender Fall präsentiert:

„[Es handelt sich um] eine [bestimmte] Frau, deren Mann in ein fernes Land gegangen war. Sie [zwei Zeugen] kamen und sagten zu ihr: „Dein Mann ist verstorben“. Und [daraufhin] heiratete sie [einen anderen Mann].
Aber danach kam ihr [erster] Mann [zurück].

[In diesem Fall gilt:] Sie muß von dem einen und dem anderen weggehen und muss von dem einen und dem anderen einen Scheidebrief bekommen.

Und weder die Heiratsverschreibung, noch die Früchte, noch die Verpflegung, noch [der Ersatz für] Abnutzung gehört ihr von dem einen oder von dem anderen [Mann].
Wenn sie etwas von dem einen oder anderen genommen hat, muß sie [es] erstatten.“

An dem Fall ist zunächst nicht ungewöhnlich, dass ein Mann seine Frau für längere Zeit verlässt, um ins Ausland zu gehen. Es gibt zahlreiche Berufe, in denen längere Aufenthalte im Ausland notwendig sind, etwa bei Händlern. Interessant wird der Fall aber dadurch, dass zwei Zeugen den Tod des Mannes bezeugen, der Mann aber offenbar doch nicht tot ist. Was steckt dahinter? Eine – zugegebenermaßen seltene, wenn auch nicht unmögliche – Erklärung wäre, dass der für tot Erklärte verwechselt wurde. Er könnte einen Zwillingsbruder gehabt haben. Das aber ist nicht sehr wahrscheinlich, weil die Frau in diesem Fall sicher zusätzliche Erkundigungen eingeholt hätte, um sicher zu gehen, dass tatsächlich ihr Ehemann und nicht der Bruder tot gesehen wurde. Man muss also davon ausgehen, dass die Zeugen eine falsche Aussage gemacht haben. Das allerdings bleibt auch im Rechtssystem der Mischna nicht ungestraft. Die Zeugen müssten, wenn sie überführt werden, den entstandenen Schaden ausgleichen (nachzulesen in Mischna Makkot). Wenn die Zeugen sich auf eine falsche Aussage eingelassen haben sollten, könnte man davon ausgehen, dass sie dafür entschädigt wurden, und zwar von dem Auftraggeber, dem Mann also, der für tot erklärt werden wollte. Was hätte er davon, dies zu tun? Angenommen, der Mann hat eine reiche Frau geheiratet, deren Vermögen er ge- und benutzt hat. Vielleicht hat er ihr Geld verspielt, oder er muss eine Summe aufbringen, die nur aus dem Vermögen der Frau bezahlt werden kann. Das jüdische Recht schreibt nun vor, dass eine Frau einen sogenannte Ketubba, eine Heiratsverschreibung, zum Abschluss der Ehe bekommt, in der eine Summe festgeschrieben ist, die sie ausgezahlt bekommt, wenn die Ehe geschieden wird (dazu wird vom Mann ein sogenannter Scheidebrief der Frau übergeben) oder die Ehe durch den Tod des Mannes beendet wird. Auf welche Gedanken könnte ein Mann kommen, der dringend dieses Geld braucht, das für seine Frau festgelegt ist, damit sie im Falle seines Todes versorgt ist, oder in dem Fall, dass er sich von ihr trennen will? Er könnte seinen Tod vertäuschen, dann ist er erst einmal seine finanzielle Verpflichtung los. Im Zweifel muss vielleicht sogar seine Frau die Gläubiger für ihn auszahlen. Angenommen, er hätte diesen Weg gewählt, Gras wäre über die finanzielle Sache gewachsen und er hätte sich sicher genug gefühlt, nach etlicher Zeit wieder in sein altes Leben zurückzukehren. Vielleicht in der Absicht, seiner Frau alles zu erklären und auf einen Neuanfang zu hoffen. Er hat aber nicht damit gerechnet, dass seine Frau erneut heiratet. Rechtlich entsteht nun aber das Folgeproblem, dass die hintergangene Frau mit zwei Männern verheiratet ist. Dies ist verboten, auch wenn ein Mann – so er sich dies leisten kann (siehe das Problem mit der Heiratsverschreibung) mit mehreren Frauen verheiratet sein kann.
Die Mischna entscheidet diesen Fall nun zu Ungunsten der Frau. Die Frau muss von beiden Männern geschieden werden. Sie verliert ihren Status als Ehefrau in Bezug auf beide Männer. Und, das Gravierendste, keiner der Männer braucht ihr die Heiratsverschreibung auszuzahlen. Die Frau, die völlig unschuldig in diese Situation geraten ist, wird damit durch das Gesetz gestraft, der betrügerische Erstehemann kommt nicht nur ungeschoren davon, sondern bekommt obendrein „spät aber dennoch“ das Geld der Heiratsverschreibung. Der Verdacht kommt auf, dass dies von langer Hand geplant war.
Dies hat auch ein Jurist der Mischnazeit gesehen. Rabbi Jose widerspricht der Mischna mit folgendem Satz, der sich wenig später anschließt:

„Rabbi Jose sagt:
Ihre Heiratsverschreibung [geht zu Lasten] des Vermögens des ersten Mannes.“

Diese Entscheidung verhindert letztlich, dass das betrügerische Vorgehen des ersten Ehemannes Nachahmung findet. Wenn der erste Mann die Summe der Heiratsverschreibung auszahlen muss, „wenn er vom Tod aufersteht“, dann ist der Grund, einen Betrug zu organisieren, hinfällig.
Diese Entscheidung ist letztlich so einsichtig, dass sie nun in die anonyme Gesetzgebung aufgenommen wird. Die Mischna hält wenig später fest:

„Und wenn sie geheiratet hat, ohne dass die Erlaubnis [des Gerichtshofes nötig gewesen wäre], so darf sie zu ihm zurückkehren.“

Eine Erlaubnis vom Gerichtshof zur Heirat mit dem zweiten Mann hätte die Frau in unserem Fall aber nicht gebraucht, weil sie auf die Aussage von zwei Zeugen hin die neue Heirat eingegangen war. Auch der Gerichtshof hätte auf Grund von zwei Zeugenaussagen hin seine Entscheidung getroffen.
Nach der Mischna gilt damit die Ehe mit dem ersten betrügerischen Ehemann weiterhin.
Die Frau „darf“ zu ihm zurückkehren.
Bedeutet: Sie darf, muss aber nicht.
Und die Frage stellt sich dem Leser: Kann sie das ernsthaft wollen …..?

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