Anspruchsvolles Judentum

Hier ein längeres Zitat aus Emmanuel Lévinas, Anspruchsvolles Judentum. Talmudische Exkurse, Verlag Neue Kritik 2005 (Die französische Originalausgabe erschien 1982 unter dem Titel „L´au-delà de verset“ bei Editions de Minuit, Paris), S. 13-15:

„Im Herzen – oder auch am Rande – derjenigen Gruppierungen von Menschen, die sich als Juden bekennen, als solche erkannt zu werden, sich suchen oder fliehen, gibt es deutlich ausgeprägte, als orthodox bezeichnete Gemeinschaften, in denen das Judentum als Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes empfunden wird. Die Tora, und zwar so, wie sie im monumentalen Talmud interpretiert wird, ist für Gemeinschaften strenger Observanz der höchste Ausdruck dieses Willens. Das Judentum wird somit als rigoroses System von Ritualen verstanden, das alle Tatsachen und Handlungen des täglichen Lebens durchdringt und regelt. Als ein Erfüllen der Vorschriften und Respektieren der Verbote der Tora, als Studium dieser Tora in den vom Talmud eröffneten Perspektiven wäre das ganze Leben somit eine Liturgie und ein Kult, in dem das Studieren einen hohen Stellenwert innehat.

Dies bedeutet gewiss ein unbequemes Dasein für Menschen, die sich heutzutage den materiellen Zwängen der Moderne nicht zu entziehen vermögen. Doch hat es nichts mit dem zu tun, was man „Joch des Gesetzes“ nennt. Denn dieses Befolgen der Vorschriften in den konkreten Akten, die sie fordern, ist Inbrunst. Es sieht ganz so aus, als seien die rituellen Handlungen eine Fortsetzung von Seelenzuständen, indem sie den inneren Reichtum der Seele aussprechen, inkarnieren, und als seien sie für den frommen Gehorsam das, was für die Güte das Lächeln, für die Freundschaft ein Händedruck und für die Zuneigung eine Liebkosung ist.

Die Orthodoxie wird außerhalb des Rahmens dieser Gemeinschaften weniger streng gesehen und eingehalten. In seiner überwältigenden Mehrheit bekennt sich das jüdische Volk heute nicht zu dem beschriebenene Fundamentalismus. Seine Überzeugungen, Symbole, Praktiken und Texte haben sich häufig in kulturelle Inhalte transformiert: in einen gewissen Lebenstil, Verhaltenweisen, Literatur.
Zumindest werden sie von allen, die sich damit indentifizieren, als solche ausgelegt oder guten Glaubens vertreten. Für hunderttausende, an die benachbarten Kulturen oder an die Völker, unter die zerstreut sie leben, angepasste Israeliten ist das Judentum nicht einmal mehr ein kultureller Gehalt. In völliger Vergessenheit seiner Quellen und Grundlagen, in einem Lebensstil, der sich völlig von dem der orthodoxen Gemeinschaften unterscheidet, schrumpft das Judentum auf vage Erinnerungen an Erinnerungen, auf wenige Wörter zusammen, die ihren ursprünglichen Sinn bereits verloren haben, jedenfalls aber ihre grammatische Form als hebräische Wörter. Leere Behälter, verwehtes Parfum.

Indes, wenn in den entscheidenden Stunden des jüdischen Schicksalsweges – welche in der Zeit, in der wir leben, vom Widerschein der Flammen des Holocaust erfasst werden und in denen die vom Staat Israel geweckten Hoffnungen immer mehr im Geschrei seiner Feinde untergeht -, wenn in diesen Entscheidungsstunden auch für jene Menschen, die jede soziologisch messbare Bindung zum jüdischen Volk und seiner Kultur verloren haben, diese kulturellen Überreste sich mit einem sie übergreifenden Sinn erfüllen, der als Appell an Solidarität, an Verantwortung, aber auch als Erwählung empfunden wird, dann zeugt dies gleichzeitig für die außergewöhnliche Tiefe, in der sich im menschlichen Bewusstsein jene „Göttliche Kommödie“, die Heilige Geschichte, der Leidensweg Israels, abspielt, und für die unvergängliche Kraft der Riten, die diese Geschichte in die Materie der Welt eingravieren, sie einfordern und ihrer gedenken.

So diffus er auch inzwischen sein mag, so weist doch der jüdische Ritualismus in breiten Schichten der jüdischen Gesellschaft, selbst für seine Gegner, die die fundamentalistischen Gemeinschaften bekämpfen oder ignorieren, erstaunliche Fähigkeiten auf, Israel und sein übernatürliches, in Form des Alltaglebens gelebtes Abenteuer fortzusetzen. Die alten Verhaltensmaßregeln sind ein für manche irritierender, noch notwendiger Umweg der Berufung zu Brüderlichkeit und Gerechtigkeit, Ideen, welche den schöngeistigen Seelen im Kerygma Israels sicher viel verführerischer erscheinen …“

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