Wann ist ein Mann ein Mann?

In einem seiner Lieder stellt Herbert Grönemeyer die Frage: Wann ist ein Mann ein Mann? Diese Frage ist auch in der Mischna von gewisser Relevanz, da im Rahmen des religiösen Rechts die Frage zentral ist, ab wann eine Person rechts-, ritualfähig und religionsmündig ist, auch wenn seine körperliche, mentale oder emotionale Reife nicht eindeutig erkennbar ist.

Einen Text zum Thema überliefert Mischna Nidda 5,3-6,12, wo verschiedene Stadien der körperlichen Reife oder bestimmte Altersangaben einem bestimmten Rechtsstatus zugeordnet werden.

Die erste dort genannte Zeitangabe bezieht sich auf die Verunreinigungsfähigkeit eines Menschen, die sofort nach der Geburt vorhanden ist: Das einen Tag alte Kind wird unrein, wenn es mit unreinen Dingen in Berührung kommt. Das einen Tag alte Kind kann aber auch den Rechtsstatus der Mutter ändern. So kann es, wenn es ein männliches Kind ist, die Mutter von der Schwagerehe befreien (vgl. Dtn 25,5). Oder es berechtigt sie dazu, von den für die Priester bestimmten Speisen zu essen, wenn sie aus einer nicht-priesterlichen Familie kommend in eine Priesterfamilie eingeheiratet hat (vgl. Lv 22,10-16; m Jeb 9,5). Ein eintägiges Kind ist außerdem erbberechtigt. Die Feststellung, dass jemand, der einen eintägigen Säugling tötet, [des Mordes] schuldig ist, bekräftigt die Aussage, dass bereits ein eintägiger Säugling als rechtsfähige Person gilt. Er ist als Neugeborener nicht ein belebtes Etwas, über das verfügt werden kann, sondern er gehört von seiner Geburt an in die Gemeinschaft der Menschen mit ihren Ordnungen. In diesem Sinne wird festgestellt, dass ein eintägiger Säugling Eltern und Verwandten als „Chatan“ gilt. Wie ein Kind bei seiner Geburt in eine Familie eintritt und ein erster Lebensabschnitt beginnt, so tritt der „Chatan“, der Bräutigam, in seine eigene, neu zu gründende Familie ein, womit für ihn ein neuer Lebensabschnitt beginnt, in dem neue Rechte und Pflichten zu verwalten sind.

Problematisch erscheinen die Ausführungen zu dem folgenden Punkt, in dem es um den frühest möglichen Zeitpunkt für den Vollzug einer Verheiratung eines Mädchens geht. Nach Mischna Nidda 5,4 könnte theoretisch ein drei Jahre und einen Tag altes [Mädchen] durch Beischlaf angetraut werden, weil dies ein legaler Weg ist, eine Verheiratung zu vollziehen. Dass dies aber keine Option sein kann, zeigt sich schon darin, dass die Rabbinen den Beischlaf mit zeugungsunfähigen Personen mißbilligten. Durch den letzten Rechtssatz in Mischna Nidda 5,4, das Inzest-Verbot gelte auch bei einem drei Jahre und einen Tag alten Kind, wird auf das Eingegliedertsein des Kindes in die Gemeinschaft der Menschen hingewiesen. Ein Kind ist durch die Rechtsordnung geschützt. Wird ihm Unrecht angetan, werden die Verantwortlichen dafür bestraft. Verstößt jemand gegen das in Lv 20,11-12,17 und 19-21 festgelegte Gesetz der unerlaubten Verbindung von Blutsverwandten, ist er als „Nicht-Minderjähriger“ der Höchststrafe schuldig.

Bei einem Jungen im 10. Lebensjahr gehen die Rabbinen davon aus, dass er sexuell aktiv sein könnte. Nach Mischna Nidda 5,5 könnte er damit eine Antrauung durch Beischlaf rechtsgültig vollziehen. Im Zuge dieser Entscheidung stellt sich aber das Problem, dass Personen auf Grund ihrer körperlichen Beschaffenheit rechtsgültig handeln können, aber in ihren mentalen Fähigkeiten noch beschränkt und daher nicht allgemein handlungsberechtigt sein dürfen. Zwar könnte z.B. ein neun Jahre alter Junge eine Heirat vollziehen, er könnte der so erworbenen Ehefrau aber erst dann einen Scheidebrief ausstellen, wenn er erwachsen ist. Zwar ist ihm nach Mischna Gittin 2,5 erlaubt, einen Scheidebrief zu schreiben, er ist jedoch nicht unterschriftsberechtigt und kann den Scheidebrief auch nicht rechtswirksam überbringen.

In Mischna Nidda 5,6, wird anknüpfend an Lv 27,2-8 und Nu 30,3-17 festgelegt, dass Gelübde und Weihgaben, wenn sie von Mädchen, die noch nicht 11 Jahre und einen Tag alt sind, und von Jungen, wenn sie noch nicht 12 Jahre und einen Tag alt sind, ungültig sind. Sobald Mädchen das Alter von 11 Jahren und einem Tag und Jungen das Alter von 12 Jahren und einem Tag erreicht haben, können sie Gelübde sprechen, die dann gültig sind, wenn nach einer Prüfung festgestellt wird, dass die handelnden Personen verständig genug sind, um zu wissen, was sie tun. Diese „Verstandesprüfung“ muss bei Mädchen während des ganzen 12. Lebensjahres, bei Jungen während des ganzen 13. Lebensjahres stattfinden. Sobald ein Mädchen 12 Jahre und einen Tag und ein Junge 13 Jahre und einen Tag alt geworden ist, sind die von ihnen gesprochenen Gelübde und Weihgaben ohne Prüfung gültig. Nach dieser Zeit sind ihre Gelübde und Weihgaben auch dann gültig, wenn sie nicht verständig genug sind, um zu wissen, was sie tun.

Der folgende Sinnabschnitt, Mischna Nidda 5,7, nennt nicht mehr Altersangaben sondern beschreibt unterschiedliche Reifestadien bei Mädchen. Die Reifestadien sind durch das Sichtbarwerden körperlicher Reifezeichen definiert. Als „Unreife“ und „Noch-nicht-Reife“ steht ein Mädchen unter der Verfügungsgewalt des Vaters. Erst die „Ausgereifte“, das körperlich erwachsene Mädchen, ist aus der Verfügungsgewalt des Vaters entlassen. Über die Frage, wer als „eine Reife“ gelten kann, und welche Reifezeichen vorhanden sein müssen, gehen die Meinungen allerdings auseinander. Daher klagt Rabbi Jischmael an anderer Stelle: „Ich habe alle Regeln der Weisen wiederholt, aber ich habe niemanden gefunden, dessen Regel in Bezug auf die Minderjährige gleich ist – nur Rabbi Eliezer und ich [stimmen überein]“. (t Jeb 13,4).

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