Eine gute Nacht Geschichte …

Jedermanns – von Amos Kenan

„Endlich bin ich in meiner neuen Wohnung. Eine Zweizimmerwohung in einem neuen Hochhaus auf Säulen. Straße Nr. 23, Block 12, Eingang 5, Wohnung  Nr. 7.  Ich mietete einen Lastwagen und lud meine Möbel darauf: jedermanns Schrank, jedermanns Tisch, jedermanns Stühle, jedermanns Bücherregal, jedermanns Sessel, Radio, Sofa, Teppich, ein gerahmtes Bild von Herzl und die Landkarte von Israel.

Die kleine Frau war sehr glücklich. Auch die Kinder waren sehr glücklich. Meine Frau stellte die Möbel auf, legte den Teppich auf den Fußboden und verkündete den Beginn eines neuen Lebens. Ich ging zur Arbeit und fühlte mich fröhlich und stark.

Spät in der Nacht kam ich zurück. Ich war müde. Ich erinnerte mich, dass ich in meiner neuen Wohnung wohnte: Straße Nr. 23, Block 12, Eingang 5, Wohnung Nr. 7. Ich stieg die Treppen hinauf, klingelte an der Tür. Durch die Tür hörte ich die Stimmen der Kinder. Ich nahm die Bonbons, die ich ihnen gekauft hatte, aus der Tasche. Die kleine Frau öffnete die Türe, und ich küsste sie auf die Stirn. Sie fragte, wie es im Büro gewesen sei. Ich setzte mich in jedermanns Sessel, die Kinder kletterten auf den Schoß und zogen mich geschäftig an den Haaren. Sapir sprach im Radio über Produktionserhöhung und Konsumverringerung.

In jedermanns Bücherregal standen die gesammelten Werke unserer bedeutendsten Poeten, die gesammelten Werke unserer Arbeiterführer, die gesammelten Werke von Theodor Herzl, die hebräische Enzyklopädie und alle Bücher von Ben Gurion.

Auf jedermanns Tisch standen Blumen. Ein neuer, heller Jedermann-Bettbezug lag über jedermanns Bett. Jedermanns Teppich lag über dem Fußboden. Die kleine Frau sprach besorgt über die langen Schlangen beim Lebensmittelhändler. Ich sprach über die Aussichten meiner Beförderung im Büro.

Dann sagte sie: „Jossi, ich bin müde.“

„Was soll denn das heißen? Seit wann heiße ich denn Jossi?“

„Was meinst du damit, seit wann heißt du Jossi?“ fragte die kleine Frau. „Soweit ich mich zurückerinnere, warst du Jossi. Seit dem Tag, an dem wir zusammen in den Kindergarten gingen, als wir uns ineinander verliebten. Seit wir heirateten. Erinnerst du dich jetzt?“

„Entschuldigen Sie bitte“, sagte ich, „ich glaube, hier liegt ein Irrtum vor. Ich wohne in Straße 23, Block 12, Eingang 5, Wohnung Nr. 7“.

„Wirklich ein bedauernswerter Irrtum“, antwortete sie. „Das hier ist die Straße  Nr. 22, Block 11, Eingang 4, Wohnung Nr. 6.“

„Eigentlich ist das gar nicht so schlimm“, sagte ich ihr. „Ich bin müde und könnte für immer hier bleiben.“

„Ja, warum nicht“, sagte sie. „Ich selbst habe nichts dagegen. Und du?“

„Ich auch nicht“, sagte die kleine Frau. „Aber erinnere dich daran, dass deine Anschrift von heute an Straße Nr. 22, Block 11, Eingang 4, Wohnung Nr. 6 ist.“

Und seit jenem Tag geht das Leben wie immer weiter.

Für alle Fälle habe ich an der Haustür den Hinweis „Bitte, zweimal klingeln“ angebracht.“

 

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