Eine abschließende Anthologie

Im Jahre 1959 erschien im Jüdischen Verlag ein Gedichtband unter dem Titel „Jüdisches Schicksal in deutschen Gedichten. Eine abschließende Anthologie“. In seinem Vorwort schreibt der Herausgeber Siegmund Kaznelson:

„Was jüdisches Wesen und jüdische Art ist, darüber werden die Meinungen sicherlich weit auseinandergehen, ebenso diejengen über äußeres und inneres jüdisches Schicksal. Letzten Endes mußte die Ansicht entscheiden, die sich der Herausgeber im Laufe mancher Jahrzehnte gebildet hat. Das „dunkle Weh“, das zum Beispiel Heinrich Heine „Judenschmerz“ nennt, und das vielen charakteristisch für jüdische Menschen und ihre Schöpfungen zu sein scheint, berührt sich häufig und eng mit allgemein menschlichen Empfindungen; es mag daher von diesen nur schwer zu unterscheiden sein. Dasselbe gilt für die Stimmungen der Einsamkeit, des Abschiednehmens, der Resignation usw., die als „Judenschmerz“ zu charakterisieren vielleicht zu problematisch erscheinen mag….

Trotz der Überzeugung von der Besonderheit, Einmaligkeit und Unvergleichbarkeit dessen, was dem jüdischen Volk in seiner langen Geschichte und nun in dem jüngsten Schlussakt seiner europäischen Tragödie widerfahren ist, hat sich der Herausgeber wiederholt die Frage vorgelegt, ob dieses Unheil ohne Maß und Beispiel nicht doch vorausgeahnt, vorhergesagt worden ist. Wenn es wahr ist, dass die Dichter etwas von dem Erbe der früheren Seher und Zukunfts-Deuter angetreten haben, müssen sogar diese furchtbaren Geschehnisse, so wenig sie sonst erwartet und vorgestellt werden konnten, ihre Schatten in der Dichtung vorausgeworfen haben….

Diese Sammlung wird als „abschließend“ bezeichnet, nicht nur weil sie eine tausendjährige Geschichtsperiode abschließt, sondern weil nach menschlichem Ermessen die deutschsprachige Dichtung jüdischen Inhalts mit unserer oder vielleicht der nächsten Generation zu Ende geht …“ (S. 12-14)

Das folgende Gedicht von Richard Beer-Hofmann, das Arthur Schnitzler gewidmet ist, findet sich auf Seite 184 der Anthologie:

Der einsame Weg

Alle Wege, die wir treten
Münden in die Einsamkeit
Nimmermüdes Stunden jäten,
Aus, was wuchs an Lust und Leid.

Alles Glück und alles Elend
Blasst zu fernem Widerschein.
Was beseligend, was quälend,
Geht, lässt uns mit uns allein.

Schritt ich eben nicht im Reigen?
Und was traf, das traf gemeinsam –
Bietet keine Hand sich? Schweigen
Sieht mich an, der Weg wird einsam.

Ob ich stieg von Glückes-Thronen,
Ob ich klomm aus Leidens-Gründen,
Dort, wohin ich geh´zu wohnen,
Will sich keiner zu mir finden.

Ein Erkennen nur, mit klaren
Augen will mich hingeleiten:
Dass auch vorher um mich waren,
Unerkannt, nur Einsamkeiten.

Das auf der gegenüberliegenden Seite 185 abgedruckte Gedicht stammt von Clemens Hein. Es trägt die Überschrift:

Ahnung des Abschieds

Alles Leben ist ein Schreiten
Aus zerbrechendem Vereintsein
Hin zu letzten Einsamkeiten,
Und im Grund sind wir allein.

Unsre Wege sind ein Wandern,
Sind ein Suchen und Niefinden,
Unsere Sehnsucht nach dem Andern
Weiß sein mähliches Entschwinden.

Macht allein ist: zu entsagen,
Nichts erwarten und nichts hoffen;
Alle Liebe, die wir wagen,
Wird einst, wie wir selbst, getroffen.

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