In Geschichten verstrickt

Eines meiner absoluten Lieblingsbücher, ein Buch, das sich seit den frühen Tagen meines Philosophiestudiums in mein Herz eingebrannt hat, trägt den Titel „In Geschichten verstrickt“. Geschrieben hat es Wilhelm Schapp. Dieses Buch gehörte zu der Pflichtlektüre bei Ernst Vollrath, bei dem ich „Handlungstheorie“ und „politische Philosophie“ und vor allem die Schriften von Hannah Arendt studierte. Das Buch trägt den Untertitel: „Zum Sein von Mensch und Ding“. Der erste Satz des Buches lautet: „Wir Menschen sind immer in Geschichten verstrickt.“

Nach minutiösen Darlegungen über die Frage, wie Verständigung durch Sprache und gegenseitiges Verstehen möglich sein kann, kehrt Schapp zu seinem „Verstricktsein in Geschichten“ zurück. Ich möchte einige seiner Gedanken dazu hier zitieren:

„Wenn wir richtig sehen, knüpft nicht etwa eine Geschichte an die andere an, ist auch nicht jede Geschichte gleichsam ein Tropfen in einem Meer von Geschichten und vielleicht mit allen Geschichten in diesem lebendigen Zusammenhang, von dem wir einen ersten Eindruck zu vermitteln versucht haben. Wir könnten vielleicht auch sagen, dass jede Geschichte im Horizont einer anderen Geschichte vorbereitet ist, oder dass im Horizont jeder Geschichte ein Platz ist für die anderen Geschichten.“ (S. 94)

„Mit jeder Geschichte taucht der darin Verstrickte oder tauchen die darin Verstrickten auf. Die Geschichte steht für den Mann. Sie verlängert oder vertieft sich gleichsam ohne unser Zutun je nach dem Gewicht, welches ihr innewohnt, in den Mann hinein. Wir meinen auch, dass der Zugang zu dem Mann, zu dem Menschen, nur über Geschichten, nur über seine Geschichten erfolgt, und dass auch das leibliche Auftauchen des Menschen nur ein Auftauchen seiner Geschichten ist, dass etwa sein Antlitz, sein Gesicht, auch auf eigene Art Geschichten erzählt, und dass der Leib für uns nur insofern Leib ist, als er Geschichten erzählt, oder, was dasselbe wäre, Geschichten verdeckt oder zu verdecken sucht.

Die Geschichte über einen Mann wird auch niemals im Leeren in der Art auftauchen, dass nur der Mann auftaucht, sondern in einer Umgebung, auf einem Hintergrund von Geschichten anderer, die sich schließlich irgendwie im Horizont verlieren, so dass man den Eindruck haben kann, dass zwischen allen Geschichten ein näherer oder fernerer Zusammenhang besteht, ein Zusammenhang der Art, wie er eben bei Geschichten bald greifbar nahe, bald in unendlicher Weite bestehen kann.“ (S. 101)

Es folgt Kapitel 6 „Die Geschichte steht für den Mann“, aus dem ich nicht zitieren möchte. Es ist „das“ Kapitel des Buches und muss von jedem, der sich für „Geschichten“ interessiert, erst einmal allein gelesen werden ….

Weiter geht es über das „Verstricktsein in Geschichten“:

„Der Arzt, dem man seine Krankengeschichte erzählt, soll die Krankheit heilen, der Geistliche soll Rat oder Trost gewähren. Überall wird der Versuch gemacht, von einer Geschichte aus einen anderen oder eine andere Stelle in die Geschichte einzuspannen, diese zu veranlassen, eine Geschichte fortzusetzen oder zum Abschluss zu bringen, gleichsam die Geschichte zu ihrer eigenen zu machen. Vielleicht hat man kein Glück damit. Das erste Missgeschick, das man haben kann, ist etwa, dass die angegangene Stelle nicht zuständig ist, es ablehnt, sich irgendwie mit der Geschichte zu befassen ….“ (S. 108)

„Eine Geschichte, in die jemand verstrickt ist, kann erst dadurch Bedeutung gewinnen und riesengroß werden, dass sie bekannt wird. Der Verstrickte kann dadurch, dass sie bekannt wird, in die Hände von Erpressern fallen. Der Erpresser ist auf Geschichten aus, die auf keinen Fall bekannt werden dürfen. In ähnlichen Zusammenhängen steht es oder ähnliche Zusammenhänge liegen vor, wenn politische Gegner gegenseitig das Leben des anderen ableuchten nach Geschichten, die vielleicht zunächst in ein Archiv gelegt werden, um bei passender Gelegenheit zur gegebenen Zeit den Gegner damit zu vernichten. Das Bekanntsein ist keine Seinsform der Geschichte. Es realisiert sich immer nur im Kopf des anderen.

Hier tritt besonders zutage, wie die Geschichte für den Mann steht, wie die Einzelgeschichte sich nicht aus der Lebensgeschichte ausradieren lässt, wie der Mann in seine Geschichte verstrickt ist, wie die ganze Lebensgeschichte eine Einheit bildet, wie das Bekanntsein von Geschichten eine Entblößung bedeutet. Es ist für unsere Zeit charakteristisch, dass sich die gehobenen Berufe mit der Ausnahme der rein technischen im wesentlichen mit fremder Leute Geschichten befassen. Diese Beschäftigung mag von vornherein den einfachen Volkskreisen suspekt sein. In diesen Kreisen ist die Auffassung verbreitet, dass es ungehörig ist, in anderer Leute Geschichten einzudringen, andere Leute bloßzustellen. …. Im übrigen hängt dies Forschen nach Geschichten wieder eng damit zusammen, dass die Menschen heute ganz anders als in früheren Zeiten durcheinandergewürfelt werden, dass sie ständig neue Wirkungskreise suchen und dass der Eintritt in den neuen Wirkungskreis davon abhängig ist, dass ihre Geschichten bekannt werden, soweit sie für den Wirkungskreis eine Bedeutung haben. Jeder muss mehr oder minder für den neuen Wirkungskreis seine Geschichte erst offenlegen, seine Karten auf den Tisch legen, die Karten, die in alten Zeiten jeder, der mit ihm in Berührung kam, von Anfang an kannte.“ (S. 116)

Das Buch, das erstmals 1953 erschienen ist, hat insgesamt 206 – allerdings nicht sehr großformatige – Seiten. Auf Seite 117, also ziemlich in der Mitte des Buches, findet sich der Satz: „Man kann nicht jedem jede Geschichte erzählen  ….“ Und zehn Seiten später heißt es: „Es mag viele Geschichten geben, die gleichzeitig auf viele Fragen Antworten geben, und es mag Geschichten geben, die fast alle Fragen mit einem Male beantworten.“ (S. 127)

Und dieser link muss jetzt einfach sein …. was für einen nette Geschichte:

http://www.youtube.com/watch?v=bdS3w-kFd7U

 

 

 

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