Die Rabbinen über die Geschichte von Noah

Auch im babylonischen Talmud findet sich ein Kommentar, der die Problematik von Gn 6,2-7 berücksichtigt. Im Traktat Sanhedrin (108a-109b) heißt es:

Die Rabbinen lehrten:
DIE GENERATION DER FLUT HAT KEINEN ANTEIL AN DER KOMMENDEN WELT,
denn es heißt:
Und es wurde alles Bestehende vertilgt, was auf dem Erdboden war. (Gn 7,23)
Und es wurde alles Bestehende vertilgt.
In dieser Welt.
All das wurde vertilgt. (Gn 7,23)
Für die kommende Welt,
Worte Rabbi Aqibas.

Rabbi Jehuda ben Batyra sagt:
Sie werden nicht leben und sie werden nicht gerichtet werden,
denn es heißt:
Es soll nicht ewig mein Geist über den Menschen richten. (Gn 6,3)
Weder [gibt es ein] Gericht [für sie] noch [waltet der] Geist [über sie].

Eine andere Auslegung:
Es soll nicht ewig mein Geist über den Menschen richten. (Gn 6,3)
Ihre Seele soll nicht in ihren Kasten (in dem sie bis zur erneuten Verbindung mit dem Körper aufbewahrt wird) zurückkehren.

Rabbi Menachem ben Jose sagt:
Selbst in der Stunde, in der der Heilige, gepriesen sei er, die Seelen in die toten Leichname zurückkehren lässt, wird ihre Seele [es] für sie schwer haben in der Gehenna (der Hölle),
denn es heißt:
Ihr seid schwanger mit Heu und gebärt Stroh, euer Geist ist ein Feuer, das euch verzehrt. (Jes 33,11)

Die Rabbinen lehrten:
Die Generation der Flut war nur wegen der Güte übermütig geworden, mit der sie der Heilige, gepriesen sei er, überhäuft hatte.
Was nämlich steht über sie geschrieben?
Ihren Häusern ist Frieden [fern] vom Schrecken und der Stab Gottes ist nicht auf ihnen. (Hiob 21,9)
[…]
Und dies ist der Grund, dass sie zu Gott sprachen:
Weiche von uns, denn wir haben keinen Gefallen daran, deine Wege zu wissen. Was ist der Allmächtige, dass wir ihm dienen und was nützt es, wenn wir zu ihm bitten. (Hiob 21,14-15)

Sie sprachen alle: Wir brauchen ihn noch nicht einmal für einen Regentropfen. Wir haben Flüsse und Quellen, die uns genügen.
Daher sagte der Heilige, gepriesen sei er: Mit der Güte, mit der ich sie überhäuft habe, reizen sie mich. Mit ihr werde ich sie richten, denn es heißt:
Und ich, siehe, ich will die Flut der Wasser über die Erde bringen [zu vernichten alles Fleisch, in dem ein Hauch von Leben ist]. (Gn 6,17)

Rabbi Jose sagte:
Die Generation der Flut war nur durch das Auge übermütig geworden, das [durch seine Tränen] dem Wasser gleicht, denn es heißt:
Und sie nahmen sich alle die Frauen, die sie für sich erwählt hatten. (Gn 6,2) (= die sie gesehen hatten)
Daher richtete er sie mit dem Wasser, das [den Tränen des] Auges gleicht, denn es heißt:
Alle Quellen der großen Urtiefe brachen hervor und die Schleußen die Himmels wurden geöffnet. (Gn 7,11)

Rabbi Jochanan sagte:
Die Generation der Flut – durch [etwas] Großes wurden sie verdorben und durch [etwas] Großes wurden sie gerichtet.
Durch Großsein wurden sie verdorben, denn es heißt:
Und JHWH sah, dass die Bosheit der Menschen groß war. (Gn 6,5)
Und durch [etwas] Großes wurden sie gerichtet, denn es heißt:
Alle Quellen der großen Urtiefe [brachen hervor und die Schleußen die Himmels wurden geöffnet]. (Gn 7,11)

Rabbi Jochanan sagte:
Drei von diesen [Quellen] sind [bis heute] übrig geblieben: der [Quell]schlund von Gadara, die Thermen von Tiberias und die große Quelle von Biram.

Denn alles Fleisch hatte seinen Wandel auf Erden verderbt. (Gn 6,12)
Rabbi Jochanan sagte:
Das lehrt, dass sie Vieh mit Wild und Wild mit Vieh sich kreuzen ließen und alles mit dem Menschen und der Mensch mit allen.

Nach der Lehre der Mischna in Sanhedrin 11,3 ist die Vernichtung der Schöpfung durch die Sintflut definitiv. Für diejenigen, die während der Sintflut umkamen, gibt es „keinen Anteil an der kommenden Welt“, die Vertilgung ist endgültig. Diese Aussage erschlossen die rabbinischen Gelehrten aus der Wiederholung in Gn 7,23. In Gn 7,23 heißt es: „Und es wurde alles Bestehende vertilgt, was auf dem Erdboden war, von Mensch bis Vieh, bis Gewürm und bis Gevögel des Himmels, und sie wurden vertilgt von der Erde.“ Da nach rabbinischen Grundsatz die Bibel sich nicht wiederholt, jede (vermeintliche) Wiederholung nur da ist, um gedeutet zu werden, wird das zweite „sie wurden vertilgt“ verstanden als „sie wurden noch einmal vertilgt“. Es geht in Gn 7,23 damit um das Vertilgen aus „dieser Welt“ und das Vertilgen aus „der kommenden Welt“, in der Gott künftig herrschen wird. Dieses Vertilgen ist derart definitiv, daß es kein „Endgericht“ für die in der Flut Umgekommenen geben wird. Dies belegt Rabbi Jehuda ben Batyra zusätzlich mit aus Gn 6,3 (es soll nicht ewig mein Geist über den Menschen richten (jadon)).

Ein anderer Deutungsversuch bezieht „jadon“ klanglich auf „nadan“, „Kasten“ oder einen „Platz, wo etwas aufbewahrt wird“: Die Seelen der in der Sintflut Vernichteten sollen nicht mehr zu ihren Körpern zurückkehren. Menachem ben Jose mildert dieses Bild etwas ab. Wenn die Seelen zu ihren toten Körpern zurückkehren, werden die Seelen es schwer haben, die sich in der Gehenna, dem Ort des ewigen Straffeuers, aufhalten, zurückzukehren. Dies schließt Menachem ben Jose wiederum aus der folgenden klanglichen Assoziation: „kascheh“, schwer, klingt ähnlich wie „kasch“, „Stroh“, ein Wort, das sich in Jes 33,11 findet: Ihr seid schwanger mit Heu und gebärt Stroh, euer Geist ist ein Feuer, das euch verzeht. Menachem sieht also den Grund dafür, dass die Seele nicht in ihren Körper zurückgelangen kann, in der Seele selbst, die sich selbst richtet. Würde sie sich ändern, wäre die Chance zur Rückkehr vorhanden.

Im verbleibenden Teil der Kommentierung geht es um die Frage, warum die Sintflut über die Erde kam. Die Weisen sind sich darin einig, dass die Menschen auf Grund der großen Güte Gottes, mit der Gott sie überhäuft hatte, übermütig geworden waren. Sie lebten wie im Paradies, verbrachten ihre Jahre in Wonne, aber in einem Augenblick wurden sie vernichtet. Der Grund ihrer Vernichtung wiederum lässt sich aus der Art der Bestrafung erschließen. Da Gott sie mit Wasser vernichtet hat, mussten die Menschen sich mit Wasser versündigt haben (Analogieschluss). Der Kommentar schildert die Situation narrativ: Die Menschen haben Gott zurückgewiesen, da sie alles hatten, was sie brauchten. Sie brauchten Gott noch nicht einmal um Regen zu bitten, da ihre Flüsse ausreichend Wasser hatten.
Rabbi Jose kommt allerdings auf Grund eines anderen Analogieschlusses zu einer anderen Erklärung. Ausgangspunkt seiner Interpretation ist Gn 6,2. Jose bezieht das „bne ha-elohim“ aus Gn 6,2 auf alle Männer des Zeitalters vor der Flut. Wie alle Männer vernichtet wurden, die sich die Frauen nahmen, die ihnen gefielen, so wurden die Frauen vernichtet, die sich nehmen ließen. Da die Augen die Männer dazu verleitet hatten, Unzucht zu begehen, und das Auge der „Ort“ der Tränen ist, kamen die Menschen durch das Wasser um. Da aber auch alle Tiere vernichtet wurden, ist zu schließen, dass auch die Tiere in die Sünde eingeschlossen waren. Dies belegt auch Gn 6,12, wonach der Wandel aller Geschöpfe verderbt war.

Die Interpretation von Rabbi Jochanan schließt sich an das Zitat von Gn 7,11 an und fußt auf einem Analogieschluß. Da Gn 7,11 eine „große“ Urtiefe erwähnt, die sich zur Sintflut öffnet, muß es auch ein „großes“ Vergehen gewesen sein, das Gott strafen wollte.

Eine rabbinische Kommentierung, die die erwähnten Interpretationen zu Gn 6,2-7 narrativ zusammenführt, findet sich in Pirke de Rabbi Elieser, Kapitel 22:

Rabbi Meir sagt:
[Mit] unbedeckter Leibesblöße wandelten die Generationen Kains umher. Die Männer und Frauen waren wie Vieh und verunreinigten sich mit jeder [Art] Unzucht: Ein Mann [schlief] mit seiner Mutter und mit seiner Tochter und mit der Frau seines Bruders – öffentlich und in den Straßen – durch den bösen Trieb und durch die Gedanken ihres Herzens, denn es heißt:
Da sah der JHWH, dass die Bosheit der Menschen auf Erden groß war [und das alles Gebilde der Gedanken ihres Herzens nur böse war, den ganzen Tag]. (Gn 6,5)

Rabbi [Jehuda der Fürst] sagt:
Die Engel, die von ihrem geheiligten Ort aus dem Himmel gefallen waren, sahen, dass die Töchter Kains mit unbedeckter Leib bloß umherwandelten und ihre Augen wie Dirnen schminkten; und sie irrten hinter ihnen her und nahmen von ihnen Frauen, denn es heißt:
Da sahen die Söhne Gottes die Töchter des Menschen. (Gn 6,2)

Rabbi Jehoschua ben Qarcha sagt:
Die Engel waren Feuerblitze, denn es heißt:
[Er macht zu seinen Boten (= im Hebräischen dasselbe Wort wie „Engel“) Winde] zu seinen Dienern einen Feuerblitz. (Ps 104,4)

Und das Feuer kam mit dem Beischlaf [der Engel] in die Frauen (wörtlich: den Menschen) und sie verbrannte sich nicht den Körper?
Vielmehr [muss es so gewesen sein]:
Als sie vom Himmel aus ihrem geheiligten Ort fielen, wurde ihre Kraft und ihre Statur wie die eines Menschen und sie wurden mit Erdenstaub bekleidet, denn es heißt:
Mein Leib ist gekleidet mit Gewürm und Erdenstaub. (Hiob 7,5)

Rabbi Zaddok sagt:
Aus ihnen gingen die Riesen hervor, die in der Höhe [ihrer] Gestalt umherwandelten und ihre Hand nach jedem Diebstahl, Raub und Blutvergießen ausstreckten, denn es steht geschrieben:
Und dort haben wir Riesen gesehen [ – die Söhne des Enak sind von den Riesen – und wir waren in unseren Augen wie Heuschrecken und so waren auch wir in ihren Augen.] (Nu 13,33)

Und es heißt:
Die Riesen waren auf Erden [in jenen Tagen. Auch nach diesem, als die Söhne Gottes zu den Töchtern des Menschen kamen und diese von ihnen gebaren. Dies sind die Starken, die von Alters her Männer des Ruhms waren]. (Gn 6,4)

Rabbi Jehoschua ben Qarcha sagte:
Die Israeliten wurden „Söhne Gottes“ genannt, denn es heißt:
Kinder seid ihr von JHWH, eurem Gott. (Dtn 14,1)

Und die Engel wurden „Söhne Gottes“ genannt, denn es heißt:
Unter dem einstimmigen Jubel der Morgensterne und dem Jauchzen aller Söhne Gottes. (Hiob 38,7)

Und diese [waren sie]. Solange sie an ihrem geheiligten Ort im Himmel waren, wurden sie „Söhne Gottes“ genannt, denn es heißt:
Und auch nach diesem, als die Söhne Gottes [zu den Töchtern der Menschen] kamen. (Gn 6,4)

Rabbi Levi sagt:
Sie zeugten ihre Kinder und waren fruchtbar und mehrten sich nach Art eines großen Wimmelgewürms, 60 [Nachkommen] bei jeder Geburt.
Zu jener Zeit stellten sie sich auf ihre Füße und sprachen in der Sprache des Heiligtums und tanzten vor ihnen, denn es heißt:
Sie schicken wie Vieh ihre Buben [und ihre Kinder springen umher. Sie singen zu Pauke und Zither und tanzen nach dem Klang der Flöte]. (Hiob 21,11)

Noah sagte zu ihnen: „Kehrt um von euren Wegen und euren bösen Taten, damit nicht die Wasser der Flut über euch kommen und alle Nachkommen des Menschen vernichten.“
Sie sagten zu ihm: „Siehe, halten wir uns fern vom Fruchtbarsein und Vermehren, damit keine Nachkommen eines Menschen mehr erstehen.“
Was taten sie?
Wenn sie zu ihren Frauen kamen, ließen sie den Quell ihres Samens auf der Erde verderben, auf dass nicht der Same eines Menschensohnes hervorkäme, denn es heißt:
Und Gott sah die Erde und siehe, sie war verderbt. (Gn 6,12)

Sie sagten: „Wenn die Wasser der Flut über uns kommen werden, siehe, wir sind derart groß von Gestalt, dass die Wasser nicht einmal bis an unseren Hals reichen werden. Und wenn die Wasser der Urtiefen zu uns hinaufsteigen, siehe, die Zehen unserer Füße werden die Urtiefen verschließen.
Was taten sie?
Sie streckten ihre Fußsohlen aus und verschlossen alle Urtiefen.
Was tat der Heilige, gepriesen sei er?
Er ließ die Wasser der Urtiefe aufkochen und sie verbrühten ihr Fleisch und zogen ihre Haut von ihnen ab, denn es heißt:
Zur Zeit, wo sie erhitzt werden, schwinden sie; in seiner Glut vergehen sie von ihrer Stätte. (Hiob 6,17)

Lies nicht „in seiner Glut“ (bechomo), sondern „mit seinem kochenden Wasser“ (bechamimo).

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Eine Antwort zu Die Rabbinen über die Geschichte von Noah

  1. abulafia sagt:

    Gut nachvollziehbares Beispiel für rabbinisches Brainstorming; erhellend kommentiert. So macht rabbinisches Denken samt Nach-Denken Freude.

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