Die Rational-Choice-Theorie scheint quasi widerlegt. Aber nur fast.

2011
10.02

Ein fremder Mann um die 29 hat mich am Freitag per Mail um einen Schlafplatz in meinem Zimmer gebeten. Ohne ihn je gesehen zu haben, hab ich sofort zugesagt, 12 Stunden später hab ich ihn vom Bahnhof abgeholt. Was klingt, als würden mir meine Eltern davon abraten und die BZGA Broschüren dazu herausgeben („Vorsicht, Chatroom-Falle!“), heißt ‚Couchsurfing’ und ist nicht ganz so gefährlich wie es sich anhört. Vertrauen in das Gute im Menschen gehört trotzdem dazu.

Und das habe ich. YEAHH! Ich habe meinen ersten Couchsurfer gehostet! Und das, wo ich mein Profil erst seit drei Wochen habe, eine Antwort-Rate von null Prozent hatte, fast nichts in meinem Profil steht und ich erst vor ein paar Tagen meine „Couch“ als „frei“ gekennzeichnet habe.

Wer es nicht kennt: www.couchsurfing.org ist eine Art Facebook für die Vermittlung von Schlafplätzen auf der ganzen Welt. User geben ihren Status an (ob bzw. wie viele Menschen sie unterbringen können), beschreiben ihre „Mission“, ihre Philosophie, was sie anderen Menschen beibringen können, was sie lernen wollen, was ihre Pläne sind, wo sie schon überall gelebt haben … und per „Couchsuche“ kann man dann Anfragen senden und sich kostenlos bei Menschen auf der ganzen Welt einladen, häufig gibt es im Gegenzug ein gekochtes Essen, Musikeinlagen, was zum Lernen…

Seit gestern habe ich das nervöse Gefühl, ich müsste dringend in einer Hausarbeit Couchsurfing mit soziologischer Spieltheorie betrachten (warum sind nicht alle Couchsurfer Diebe? Reichen die „Referenzen“ als Sanktionsmechanismen? Warum zerstört nicht ein Ausreißer das System? Sind die Auszahlungen in der Matrix für Hoster und Surfer gleich hoch?)

Hauptsache die Haare fliegen. (v.l.n.r. Surfer, Hoster, WG-Camille)

Es war jedenfalls nicht nur soziologisch gesehen (Pareto-Optimum) ein tolles Wochenende: am Samstag haben wir nicht nur eine Tour durch ganz Cádiz gemacht, sondern haben wunderbar gefrühstückt, waren beim Strand Tapas essen, abends hat Tatiana landestypisch von der île de la Réunion gekocht und wir waren mit den Nachbarn von Gegenüber im Hafen feiern, um unserem Couchsurfer ein bisschen von unserem Erasmus-Leben abzugeben. Sonntags ausschlafen, chinesische Ravioli vorbereiten, Strand… und dann ist Jean-Philippe weitergezogen, sein Flug ging abends nach London. Eigentlich kam er von einer mehrwöchigen Segelturn (Mittelmeer – Atlantik) mit Freunden und hatte spontan noch ein paar Tage Zeit fürs „Fest“land– und wir damit die Gelegenheit seine Delphin-Fotos zu bestaunen.

Er – übrigens Physik/ Chemie in Bordeaux und Salamanca studiert- kennt unser Urlaubs-Lacanau lustigerweise vom „nach der Schule mit Freunden kurz rüber fahren“ und wohnt mittlerweile in La Rochelle (wo natürlich immer eine Couch für mich frei ist! Mit Blick aufs Meer!) und arbeitet irgendwas in der Beratung/ gesellschaftliche Aufklärung Richtung erneuerbare Energien (anscheinend bisher nicht erfolgreich, oder er hatte noch kein Zwiegespräch mit Sarkozy).

Mit jemanden im Gepäck, dem man seine Stadt zeigt, sieht alles gleich viel schöner aus.
Mit jemanden im Gepäck, dem man seine Stadt zeigt, sieht alles gleich viel schöner aus. (Für denjenigen, der aufs Foto draufklickt, auch)
Endlich mal ein bisschen Tourismus statt Erasmus!

Wer ein bisschen Erasmus- oder Reise-Gefühl haben möchte, dem lege ich ganz doll ans Herz, sich auch einen Couchsurfing-Account zuzulegen und Surfer einzuladen. Es macht Spaß, ein guter Gastgeber zu sein und jemandem an seinem Leben teilhaben zu lassen.  Zumindest, wenn so jemand unkompliziertes wie J-P (der auch mal alleine losgezogen ist) auf dem Sofa surft. Klar, kann man auch schlechte Erfahrungen machen, ich hab auch sicherheitshalber meine Kreditkarte an einen sicheren Ort getan, aber gegen blöde Leute helfen die Referenzen, die andere Surfer/ Hoster einem aufs Profil schreiben. Sprich: damit Jean-Philippe weiterhin unbeschwert surfen kann, schreibe ich in sein Profil, dass er klar geht, umgekehrt schreibt er in mein Profil, dass ich die beste Gastgeberin der Welt bin, in meiner WG das beste Essen gekocht wird und sich niemand diesen Spaß entgehen lassen sollte, mich einzuladen und kennenzulernen. Und das eröffnet mir jetzt Türen in die ganze Welt, hört sich gut an, oder?

[Nachtrag für die Soziologen: der letzte Satz erinnert doch wieder ein bisschen zu doll an Rational Choice (das Foto dafür umso mehr an Homo Sociologicus). Ich muss also doch diese Hausarbeit (Bachelorarbeit?) schreiben, um herauszufinden, was der soziologische Antrieb von Couchsurfing ist. Thesen eurerseits? Forschungsfrage?]

P.S.: Es geht mir nicht aus dem Kopf: Warum gibt es bei Couchsurfen kein Trittbrettfahrerproblem?? Wir brauchen eine Auszahlungsmatrix!

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4 Responses to “Die Rational-Choice-Theorie scheint quasi widerlegt. Aber nur fast.”

  1. thea sagt:

    Alles schön, außer das Wort Matrix! Hab gedacht, Neo hätte das Problem vor Jahren gelöst als er mit zwei Albinozwillingen schattenboxen gespielt hat. Bin verwirrt.

  2. Felix sagt:

    Also, ich sag mal: Auf der Präferenzordnung von Couchsurfern steht der Wunsch, andere Leute kennen zu lernen, weit oben. Die zu erwartenden Gewinne aus der interkulturellen Begegnung und der ökonomische Anreiz auf billige Unterkunft übersteigen (in der subjektiven Einschätzung) die möglichen Kosten einer negativen Erfahrung . Dadurch sind sie bereit, das Risiko von Vertrauensmissbrauch in Kauf zu nehmen, wenn sie selbst hosten. Wäre umgekehrt das Ziel, andere auszunehmen, ließe sich das ohne zu reisen günstiger erreichen. Da es sich nicht um die Erstellung eines öffentlichen Gutes handelt, stellt sich weniger ein Trittbrettfahrer- als ein Vertrauensproblem zwischen einander wenig bekannten Interaktionsteilnehmern. Möglich wäre auch, dass sich im Couchsurfing der Wunsch nach einer Art länderübergreifenden Solidarität und die Idee eines wie auch immer gearteten Weltbürgertums ausdrückt, das mittels moderner Kommunikationstechnologie auch neue Formen von Mobilität erschließt und sich von rein materiellen und anonymen Kunde-Hotelier-Beziehungen abwendet. ODER: die Antwort ist 42 und alles ist ganz anders. Und deshalb braucht die Welt diese Hausarbeit! Go for it, Merle, bestelle schon mal ein gebundenes Exemplar! :)

    • Merle sagt:

      „Auf der Präferenzordnung von Couchsurfern steht der Wunsch, andere Leute kennen zu lernen, weit oben.“ - Ich tippe eher auf den ökonomischen Anreiz. „Wäre umgekehrt das Ziel, andere auszunehmen, ließe sich das ohne zu reisen günstiger erreichen.“ Na klar, aber die Voraussetzungen stimmen: Anonymität und Mobilität können nicht maximaler sein! „Da es sich nicht um die Erstellung eines öffentlichen Gutes handelt,…“ in gewisser Weise doch: irgendjemand muss ja anfangen zu geben, statt zu nehmen. Es ist kein Gut im klassischen Sinne, aber alle profitieren von der Struktur, die sich entwickelt hat. „ weniger ein Trittbrettfahrer- als ein Vertrauensproblem…“ sowohl als auch! Trittbrettfahren tun die, die nur surfen, ohne Leute einzuladen. Obwohl ich in einem soziologischen Aussatz gelesen habe, dass wohl viele Leute lieber hosten – da kommt jetzt wieder die soziale Komponente. Und damit deine Theorie, dass es um Leute kennen lernen geht und darum, sich das Reisegefühl nach Hause zu holen. Den Rest unterschreibe ich. Darf ich dich in meiner Arbeit zitieren?

  3. Skipfly sagt:

    Skipfly... Fantastic blog post

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